La|ma|ịs|mus 〈m.; -; unz.〉 das tibet. Priesterwesen, Form des (Mahajana-)Buddhismus
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La|ma|ịs|mus, der; -:
tibetischer Buddhismus.
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Lamaịsmus
der, -, tibetischer Buddhịsmus, die aus indischen Spätformen des Buddhismus (Mahayana, Vajrayana) in Tibet entstandene Form des Buddhismus; ist heute neben Tibet in Bhutan, Nepal, der Himalajaregion Indiens (Sikkim, Arunachal Pradesh, Jammu and Kashmir [Ladakh]), der Mongolei, Nordchina (Innere Mongolei) und Russland (Burjatien, Kalmückien und Tuwa) verbreitet. In seinen Ursprüngen ins 7. Jahrhundert zurückreichend, erhielt der tibetanische Buddhismus seine maßgebliche Prägung durch den Vajrayana-Buddhismus. In seine religiöse Praxis nahm er auch Elemente der vorbuddhistischen Bon-Religion auf (z. B. Beschwörungsriten) und integrierte deren Geisterglauben in sein eigenes Lehrsystem. Der Lamaismus wird durch die Klöster getragen und hat in seiner Geschichte eine hierarch. Organisationsstruktur ausgebildet. Die authentische Lehre wird im Verständnis des Lamaismus durch die Lamas verkörpert, an deren Spitze der Dalai-Lama und der Pantschen-Lama stehen, die als Verkörperungen des Bodhisattva Avalokiteshvara und des Buddha Amitabha gelten.
Die von den Mönchen geschaffene Systematik teilt den Lamaismus in drei Bereiche: 1) Das mönchische Leben. Dieses ist von der Mönchsweihe bis hin zu Vorschriften des Alltags im Vinaya (»[Ordens-]Disziplin«) minutiös geregelt (im Wesentlichen bereits im Hinayana-Buddhismus festgelegt). 2) Die philosophischen Grundlagen. Diese sind in den Lehren des Madhyamaka (zum Teil auch des Yogacara) enthalten. Grundgedanke ist die Relativität, ja »Leerheit«, alles Seienden. Danach ist die Erscheinungswelt entweder ganz ohne Substanz oder von einem »Allbewusstsein« her reproduziert. Diese sehr abstrakte Seinsschau (»Weisheit«, »Erkenntnis«) soll zur Loslösung von der vordergründigen Wirklichkeit und damit zur Aufhebung des Leidens führen. Notwendiges Komplement zu dieser »Ontologie« ist die »Erlösungslehre« des Mahayana, die im Bodhisattva-Ideal gipfelnde mitleidvolle Liebe: Der Vollkommene verzichtet auf seinen Eintritt ins Nirvana, bis auch das letzte Lebewesen erlöst ist. Diese beiden scheinbar entgegengesetzten Pole, die Lehren von der Leerheit und von der Erlösung, werden in der »Vollkommenheit der Erkenntnis« zu überbrücken versucht. 3) Die mystisch-rituelle Verwirklichung der vorgenannten Ideale. Diese hat in den Tantras ihren literarischen Niederschlag gefunden. Durch eine alles Denken und Definieren übersteigende mystische Versenkung und den Vollzug subtilster »magischer« Rituale (Opfer, symbolhafte Handhaltung, Silbenmurmeln, Weihrauch, Musik) wird ein Zustand absoluter Befreiung angestrebt, der in der Vereinigung aller Gegensätze, letztlich sogar in der Einheit von leidvollem Daseinskreislauf (Samsara) und Nirvana, die höchste Vollendung sieht.
Wenngleich die ersten beiden Bereiche als unabdingbare Voraussetzung angesehen werden, ist das dritte System, der Tantrismus, zur beherrschenden Form im Lamaismus geworden. Ritual und Mystik haben auch zur Schaffung eines üppig wuchernden Pantheons (Bodhisattvas, Buddhas, Schutzgottheiten verschiedener hierarch. Grade) und demzufolge zu einer ausgeprägten Symbolik (Mandala) und Ikonographie geführt. Unter den Gottheiten sind v. a. Avalokiteshvara, Manjushri und Vajrapani (die mitleidvolle Liebe, Weisheit beziehungsweise Macht verkörpern) zu nennen.
Der Lamaismus ist eine ausgesprochene Mönchsreligion, in der die Laien nur indirekt tätig werden. Diese beteiligen sich nur insofern kultisch, als sie Heiligtümer umschreiten, Reliquien verehren, Gebetsmühlen in Bewegung setzen und Amulette tragen.
Die Ausbreitung des Buddhismus in Tibet begann (von mythischen Datierungen abgesehen) um 623 n. Chr., als König Srongtsan Gampo (* um 608, ✝ 650) aus Indien eine Schrift für die tibetanische Sprache einführen ließ, dabei auch buddhistische Texte ins »Schneeland« gelangten und indische und tibetanische Gelehrte mit deren Übersetzung begannen. Nach Überwindung des Widerstandes vonseiten des der Bon-Religion nahe stehenden Adels konnten vom 8. Jahrhundert an, besonders durch das missionarische Wirken des aus Indien stammenden buddhistischen Mönchs Padmasambhava, Klöster errichtet und einheimische Mönche geweiht werden. Das erste buddhistische Kloster in Tibet gründete Padmasambhava selbst (Samye). Einen Rückschlag brachten die Verfolgungen unter dem »abtrünnigen« König (836-841) Langdamra.
Neben die älteste Schule, die Nyingmapa-Schule (»Schule der Alten«), traten vom 10. bis 13. Jahrhundert die Kadampa-Schule (»An das Wort gebundene Schule«), die nach ihrem noch heute in Tsang (westlich von Lhasa) bestehenden Stammkloster Sakya benannte Sakyapa-Schule und die Kagyüpa-Schule (»Schule der autoritativen Überlieferung«). Die Kadampa-Schule hatte als eigenständige Schule keinen Bestand; ihre Betonung der monastischen Disziplin wurde jedoch später von der Gelugpa-Schule aufgenommen. Die Sakyapa-Schule wurde vom 12. Jahrhundert an durch ihren Kontakt mit der aufstrebenden mongolischen Großmacht auch zu einem politischen Machtfaktor. Die Kagyüpa-Schule erlangte durch den Übersetzer Marpa (* 1012, ✝ 1097) und dessen Schüler, den Eremiten und Sänger Milarepa (* 1040, ✝1123), Berühmtheit und bildete eine Reihe von Unterschulen aus, unter denen die Karmapa-Kagyüpa-Schule eine weite Verbreitung erreichte. Im 14. und beginnenden 15. Jahrhundert führten die Reformbestrebungen Tsongkhapas (* 1357, ✝ 1419), die sich gegen die zunehmende Verweltlichung der Klöster und die Abkehr von der authentischen lamaistischen Lehre in den bestehenden Schulen richteten, zur Gründung einer neuen Schule, der Gelugpa-Schule (»Schule der Tugendhaften«), die als Weiterführung der Kadampa-Schule gilt. Sie hatte die Erneuerung der buddhistischen Ethik und Lehre zum Ziel und war mit der Einführung des Zölibats für die Mönche und der Ausbildung einer strengen Hierarchie verbunden. Ihre Oberhäupter, deren Sukzession im Verständnis des Lamaismus eine Kette von Wiedergeburten (Tulku) bildet, führen seit dem 16. Jahrhundert den Titel Dalai-Lama; die Großäbte des im westlichen Zentraltibet gelegenen Klosters Tashilumpo den Titel Pantschen-Lama. Die gelbe Kopfbedeckung der Mönche der Gelugpa-Schule hat ihr (und irrtümlich dem gesamten Lamaismus) im Westen die Bezeichnung »Gelbmützen« (auch »gelbe Kirche«) eingebracht. Ihnen gegenüber werden die Mönche der älteren Schulen nach der Farbe ihrer Gewänder und Kopfbedeckungen oft als »Rotmützen« (auch »rote Kirche«) bezeichnet. Alle Schulen vereinigen philosophische Theorie mit der Praxis der Meditation und haben - aufbauend auf den kanonischen Sammlungen Tandschur und Kandschur - eine kaum übersehbare Literatur geschaffen, die Historiographie, Dogmatik, Ritual, Mystik, Medizin, Astronomie u. a. umfasst. Die Gelugpa-Schule erlangte im 16. Jahrhundert einen ständig wachsenden politischen Einfluss, was im 17. Jahrhundert unter dem (»großen«) fünften Dalai-Lama Lobsang Gyatso (* 1617, ✝ 1682) faktisch zur Errichtung eines theokratisch-lamaistischen »Priesterstaates« mit der Hauptstadt Lhasa in Tibet führte, der unter mongolischer Schutzherrschaft stand (Tibet, Geschichte). Vom 16. Jahrhundert an wurde auch die (bereits im 12./13. Jahrhundert begonnene) Missionierung der Mongolei intensiviert, von wo aus mongolischen Missionare den Lamaismus unter den Burjaten und Tuwinen verbreiteten. Nach Europa gelangte der Lamaismus zuerst durch die Kalmücken. In der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts kam es in Europa und Amerika (u. a. durch tibetanische Flüchtlinge) zur Gründung von buddhistischen Meditations- und Studienzentren. In Europa bestehen Zentren der Gelugpa-Schule in Deutschland (»Tibet. Zentrum Hamburg e. V.«), Frankreich, Großbritannien, Italien, den Niederlanden, Österreich, der Schweiz und Spanien. Zentren der Karmapa-Kagyüpa-Schule, der Nyingmapa-Schule und der Sakyapa-Schule gibt es in Frankreich und Großbritannien.
Ende des 19. Jahrhunderts entstand in Osttibet die Ri-me-Bewegung, die »Schule aller Schulen«, die seither eine eigene Tradition ausgebildet hat. Sie tritt den Lehrüberlieferungen aller Schulen des Lamaismus »unparteiisch« (»ri me«) gegenüber, erkennt sie in ihrer Eigenständigkeit als gleichrangig an und kommentiert sie in ihren Zusammenhängen aus dem Blickwinkel einer lamaistischen Gesamtschau (neu). Initiiert von dem Sakyapa-Lama Jamyang Khyentse Wangpo (* 1820, ✝ 1892), gilt der als dessen Inkarnation anerkannte Lama Jamyang Khyentse Chökyi Lodrö (* 1896, ✝ 1969) als der bedeutendste Vertreter der Ri-me-Bewegung, zu deren führenden Vertretern heute auch sein Sohn Sogyal Rinpoche (* Mitte der 1940er-Jahre) gehört. Studienzentren der Ri-me-Bewegung bestehen außerhalb Tibets in London, Paris und Santa Cruz (Calif.).
A. A. Giorgi: Alphabetum Tibetanum. .. (Rom 1762, Nachdr. 1987);
G. Tucci: Indo-Tibetica, 7 Bde. (Rom 1932 bis 1941);
W. Filchner: Kumbum Dschamba Ling (1933);
A. David-Neel: Meister u. Schüler (a. d. Frz., 1934);
R. Bleichsteiner: Die gelbe Kirche (Wien 1937);
H. Hoffmann: Die Religionen Tibets (1956);
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Symbolik der Religionen, hg. v. F. Herrmann, Bd. 12: H. Hoffmann: Symbolik der tibet. Religionen u. des Schamanismus (1967);
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Dalai Lama XIV.: Das Auge einer neuen Achtsamkeit. Traditionen u. Wege des tibet. Buddhismus. Eine Einf. aus östl. Sicht (a. d. Engl., Neuausg. 1993);
Regina u. Michael von Brück: Die Welt des tibet. Buddhismus. Eine Begegnung (1996).
Hier finden Sie in Überblicksartikeln weiterführende Informationen:
Tibet: Geschichte und religiöse Traditionen
tibetische Klöster und Mönche
tibetische religiöse Kunst
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La|ma|ịs|mus, der; -: tibetischer Buddhismus.
Universal-Lexikon. 2012.