Akademik

Literaturkritik
Li|te|ra|tur|kri|tik 〈f. 20kritische Betrachtung od. Besprechung von literarischen Werken ● Vertreter einer polemischen \Literaturkritik

* * *

Li|te|ra|tur|kri|tik, die:
[wissenschaftliche] Beurteilung von [zeitgenössischer] Literatur (2).

* * *

Literaturkritik,
 
Beschäftigung mit literarischen Werken, Gattungen, Stilen und Epochen, bei der Interpretation, Vergleich, Reflexion und Wertung im Vordergrund stehen. Während sich die Literaturkritik im deutschen Sprachgebrauch v. a. mit der jeweils zeitgenössischen Literatur und aktuellen literarischen Tendenzen auseinander setzt, reichen im Englischen Literary Criticism und im Französischen Critique littéraire auch in den Bereich der Literaturwissenschaft hinein.
 
Geschichte:
 
Literaturkritik gab es bereits in der griechischen und römischen Antike. Maßstäbe lieferten die Regeln der Rhetorik und Poetik, die seit dem frühen Mittelalter im System der Artes liberales instrumentalisiert wurden. In der Literatur des Mittelalters gibt es neben der religiös motivierten auch die nach stilistischen und ästhetischen Kriterien wertende Literaturkritik. Beispiele in der volkssprachlichen deutschen Literatur finden sich z. B. in den Literaturexkursen, v. a. bei Gottfried von Strassburg, Rudolf von Ems und Konrad von Würzburg. Als ein Höhepunkt mittelalterlicher Literaturbetrachtung gilt Dantes Selbstinterpretation seiner 1321 vollendeten »Divina Commedia« (13. Brief). - Die Literaturkritik des Humanismus und des Barock war von sehr persönlicher, zum Teil politischer und religiöser Polemik geprägt, so z. B. in den Schriften u. a. von F. von Logau, J. Lauremberg, C. Weise, H. Sager, J. J. C. von Grimmelshausen, A. Gryphius und C. Hofmann von Hofmannswaldau, aber zum Teil auch bei M. Opitz, der sich, im Anschluss sowohl an antike Autoren wie auch an J. C. Scaliger, D. Heinsius u. a., wieder kritischer mit überkommenen literarischen Traditionen auseinander setzte. - Im 17. und v. a. im 18. Jahrhundert entwickelte sich als Instrument der Aufklärung eine Literaturkritik im engeren Sinne. Sie ging vom Bürgertum aus, wobei das Ästhetische zugleich als ein Anliegen von Gesittung und humaner Ausbildung empfunden wurde. Durch die französischen Enzyklopädisten, die englischen und deutschen moralischen Wochenschriften sowie die nachfolgenden kritischen Revuen wie z. B. die Allgemeine Deutsche Bibliothek entstand eine kritische Methode, die auf verbindlichen Gesetzen der Form und Thematik beruhte und sich zugleich als Maßnahme zur öffentlichen Erziehung des Geschmacks und der Sitte und als praktische Schule des Künstlers verstand. In Deutschland erreichte die Literaturkritik der Aufklärung nach J. C. Gottsched (»Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen«, 1730) sowie J. J. Bodmer und J. J. Breitinger (»Critische Dichtkunst«, 1740) einen Höhepunkt in G. E. Lessings meist auch zugleich literaturtheoretisch und methodisch auf antike Quellen sowie die Entwicklung in England und Frankreich zurückgreifenden Schriften (»Briefe, die neueste Litteratur betreffend, 1759-1763«, 1766; »Hamburgische Dramaturgie«, 2 Bände, 1767-68). Durch die Abkehr von der traditionellen Regelpoetik, die Forderung nach Beachtung des »inneren Gesetzes« und die Vorbereitung des Geniegedankens in Deutschland schuf Lessing gleichzeitig die Voraussetzungen für die Literaturkritik der Folgezeit. - Der Sturm und Drang in Deutschland und die englische Vorromantik vertraten aus einer neuen Anschauung vom Wesen des Künstlerischen (A. Shaftesbury, E. Young) den Gedanken von der Autonomie des Genies, das sich kraft seiner schöpferischen Individualität allen überkommenen Maßstäben entzieht. Auch in Frankreich vollzog sich diese Wendung zum Individuum als Träger des literarischen Geschmacksurteils, wobei Gefühlslagen und Empfindungen in Konkurrenz zum Verstandesurteil treten (J.-J. Rousseau, D. Diderot), obwohl sich die französische Kritik zum Teil auch späterhin an den klassischen Mustern zu orientieren suchte. Aufgabe der Literaturkritik war nun nicht nur die Beurteilung von Künstler und Kunstwerk, sondern auch kritisches Verstehen auf einer Basis subjektiver Einfühlung. Hierfür war in Deutschland das Werk J. G. Herders entscheidend, der in seiner literarischen Kritik eine Kulturphilosophie des Irrationalen und Humanen mit einer neuartigen Psychologie der Völker verband (»Kritische Wälder«, 3 Bände, 1769; »Briefe zur Beförderung der Humanität«, 10 Teile, 1793-97). - Die Weimarer Klassik orientierte sich dagegen an der Objektivität als zeitlos erachtetem Maßstab, wobei sie vor dem Hintergrund des Idealtypisch-Wesenhaften die Identität des Klassischen mit dem Modernen zu gewinnen suchte. Dem Kritiker fiel dabei die Aufgabe zu, den Künstler helfend aus seiner schöpferischen Individualität heraus zur Allgemeinheit der künstlerischen Normen zu führen. - Für die Romantik (F. und A. W. Schlegel, Novalis, K. W. Solger, L. Tieck) bedeutete Kritik die Aufgabe, Gehalt und Bedeutung eines Textes gleichsam in zweiter Potenz (Kritik als Kunstwerk) vorzustellen und für das Publikum zu erschließen. Neben die distanzierte Beurteilung trat die Charakteristik, die das Werk aus seinen historischen Bedingungen und dem Schaffensvorgang heraus zu werten versteht.
 
Seit dem 19. Jahrhundert bewegt sich die Literaturkritik zwischen zwei Polen: Während einerseits die Abhängigkeit der Literatur von außerliterarischen Gesichtspunkten stärker hervortritt, wird sie andererseits als Folge der idealistischen Ästhetik rein werkimmanent und damit unabhängig von politischen, sozialen u. a. Faktoren interpretiert. Eine erste Politisierung der Literaturkritik zeigte sich im Jungen Deutschland. Die Strömungen des Historismus, Nationalismus, Ästhetizismus und Positivismus wirkten mannigfach auf die Literaturkritik ein. Im 19. Jahrhundert wurde sie noch vorwiegend von Schriftstellern selbst getragen, die wie H. Heine, C. D. Grabbe, G. Keller, F. Hebbel, T. Fontane und H. von Hofmannsthal zum Teil auch journalistisch tätig waren. Seit dem 20. Jahrhundert tritt neben den Schriftsteller als Literaturkritiker (B. Brecht, H. Heissenbüttel, M. Rychner, Arno Schmidt, R. A. Schröder, M. Walser, D. Wellershoff) der für die Massenmedien tätige Rezensent literarischer Neuerscheinungen, Theateraufführungen oder Ähnlichen, z. B. H. und J. Hart, P. Schlenther, A. Kerr, K. Tucholsky, H. Ihering, J. Bab, die Wiener Kritikerschule (H. Bahr, K. Kraus, A. Polgar u. a.) sowie in jüngerer Zeit v. a. M. Reich-Ranicki.
 
Die französischen und englischen Literaturkritiken waren immer wieder von beträchtlichem Einfluss auf die Entwicklung im deutschen Sprachraum. Am Beginn der neueren französischen Literaturkritik stehen der Abbé d'Aubignac und v. a. N. Boileau-Despréaux, der die die klassische französische Dichtung prägenden poetologischen Prinzipien zusammenfasste. Eine eigenständige Literaturkritik entwickelte sich im 18. Jahrhundert durch J.-B. Du Bos, Voltaire, D. Diderot, S. Mercier; herausragende Kritikerpersönlichkeiten unterschiedlicher Ausrichtung waren im 19. Jahrhundert A.-F. Villemain, C. A. Sainte-Beuve, C. Baudelaire, T. Gautier, H. Taine, F. Brunetière, G. Lanson, J. Lemaître, im 20. Jahrhundert A. Gide, A. Thibaudet, P. Valéry, J.-P. Sartre, G. Bataille, M. Blanchot, J. Paulhan, G. Bachelard, G. Poulet, J. Starobinski, R. Barthes, Julia Kristeva (Nouvelle critique) u. a. - In England beginnt die eigentliche Literaturkritik in der Aufklärung (J. Addison, A. Pope, S. Johnson, E. Young); im 19. Jahrhundert prägen S. T. Coleridge, W. Hazlitt, M. Arnold und W. H. Pater die Literaturkritik, im 20. Jahrhundert W. P. Ker, T. S. Eliot, T. E. Hulme, Im Allgemeinen Richards, W. Empson, F. R. Leavis. - Auch in den USA wird die Literaturkritik im 19. Jahrhundert von Schriftstellern begründet (E. A. Poe, W. D. Howells, H. James). Im 20. Jahrhundert treten Kritiker wie K. Burke, M. Cowley, A. Kazin, E. Wilson, L. Trilling, L. Fiedler, Susan Sontag, in Kanada Northrop Frye (* 1912, ✝ 1991) in den Vordergrund. - Gegen die rückwärts gewandten Bestrebungen der Slawophilen entwickelte die russische Literaturkritik im 19. Jahrhundert eine realistische, sozialkritische Literatur (W. G. Belinskij, N. G. Tschernyschewskij, N. A. Dobroljubow). Um und nach 1917 entstanden verschiedene progressive Strömungen: Futurismus (W. S. Majakowskij), Formalismus (W. B. Schklowskij, J. N. Tynjanow, B. M. Eichenbaum), Proletkult (A. A. Bogdanow). Diese Vielfalt kritischer Ansätze wurde 1932 von Stalin auf das starre Programm des sozialistischen Realismus verpflichtet. - Einfluss auf die Literaturkritik im 20. Jahrhundert hatten weiterhin neben dem Marxismus (G. W. Plechanow, G. Lukács) die Psychoanalyse und die auf beide zurückgreifende Frankfurter Schule, v. a. auch in den USA der New Criticism, die in den 60er- und 70er-Jahren entwickelte kritische Theorie, der Strukturalismus sowie der Poststrukturalismus und Dekonstruktivismus (J. Derrida, J. Lacan, »Yale school of criticism«), daneben, v. a. in den USA, feministische Ansätze (Judith Fetterley, Kate Millett, Elaine Showalter).
 
Literatur:
 
R. Wellek: Gesch. der L. 1750-1950, auf mehrere Bde. ber. (a. d. Amerikan., 1959 ff.);
 K. Borinski: Die Antike in Poetik u. Kunsttheorie. Vom Ausgang des klass. Alterthums bis auf Goethe u. Wilhelm von Humboldt, 2 Bde. (1914-24, Nachdr. 1965);
 R. Fayolle: La critique littéraire (Paris 31969);
 R. Wellek: Grundbegriffe der L. (a. d. Engl., 21971);
 
Psychoanalyse u. Literaturwiss. Texte zur Gesch. ihrer Beziehungen, hg. v. B. Urban (1973);
 
Marxismus u. Lit. Eine Dokumentation, hg. v. F. J. Raddatz, 3 Bde. (Neuausg. 1973);
 H. Winter: Literaturtheorie u. L. (1975);
 
American literary criticism, bearb. v. J. W. Rathbun u. a., 3 Bde. (Boston, Mass., 1979);
 A. W. Ashhurst: La literatura hispanoamericana en la crítica española (Madrid 1980);
 D. Hoeges: Lit. u. Evolution. Studien zur frz. L. im 19. Jh. Taine, Brunetière, Hennequin, Guyau (1980);
 
Lit. u. Kritik, hg. v. W. Jens (1980);
 
L. u. literar. Wertung, hg. v. P. Gebhardt (1980);
 A. P. Frank: Einf. in die brit. u. amerikan. L. u. -theorie (1983);
 P. Hobsbaum: Essentials of literary criticism (London 1983);
 S. Talmor: The rhetoric of criticism. From Hobbes to Coleridge (Oxford 1984);
 
Gesch. der dt. L., 1730-1980, hg. v. P. U. Hohendahl (1985);
 
Kritik in der Krise. Theorie der amerikan. L., hg. v. J. Schlaeger (1986);
 G. Bataille: Die Lit. u. das Böse (a. d. Frz., 1987);
 J.-Y. Tadié: La critique littéraire au XXe siècle (Paris 1987);
 R. Klauser: Die Fachsprache der L. (1992);
 A. Horn: Grundlagen der Literaturästhetik (1993);
 J. Schutte: Einf. in die Literaturinterpretation (31993);
 J. Hawthorn: Grundbegriffe moderner Lit.-Theorie (a. d. Engl., 1994);
 
Studies in literary criticism and theory, auf mehrere Bde. ber. (New York 1994 ff.);
 M. Blanchot: L'espace littéraire (Neuausg. Paris 1995).

* * *

Li|te|ra|tur|kri|tik, die: [wissenschaftliche] Beurteilung von [zeitgenössischer] ↑Literatur (2): Escapism, das gestrenge Wort, mit dem eine puritanisch-progressive angelsächsische L. vielleicht etwas zu häufig operiert (K. Mann, Wendepunkt 333).

Universal-Lexikon. 2012.