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populäre Musik
populäre Musik,
 
Ensemble sehr verschiedenartiger Genres und Gattungen der Musik, denen gemeinsam ist, dass sie massenhaft produziert, verbreitet und angeeignet werden, im Alltag wohl fast aller Menschen, wenn auch im Einzelnen auf unterschiedliche Weise, eine bedeutende Rolle spielen. Die Zusammensetzung dieses Ensembles musikalischer Genres und Gattungen befindet sich in ständiger Veränderung. »Populäre Musik« lässt sich als Kategorie daher nicht auf einen Katalog von Merkmalskomplexen festlegen, sondern ist vielmehr als Resultat eines komplexen sozial-kulturellen Prozesses anzusehen, dessen Hauptakteure — Musiker, Publikum und Industrie — ihre Vorstellungen davon, was populäre Musik jeweils sein soll oder werden kann, gegeneinander aushandeln und durchzusetzen suchen. Institutionalisiert ist dieser Prozess in den globalen, regionalen und lokalen Musikmärkten, die ihm mit ihrer Struktur und den hier herrschenden, zumeist ökonomisch vermittelten Machtverhältnissen einen Rahmen setzen. Eben deshalb sind alle Definitionsversuche, die ausgehend von dem jeweils aktuellen Resultat dieses Prozesses musikalisch-strukturelle Verallgemeinerungen auf ein Gattungsmodell vornehmen wollen, meist schon bei ihrer Niederschrift überholt.
 
Auch wenn sich die Kategorie populäre Musik damit weder dauerhaft an bestimmte Musikformen binden lässt, noch auf wie immer auch gefasste musikalisch-ästhetische Merkmalsbündel reduziert werden kann, ist ein Resümee dieses Prozesses in seinem bisherigen Verlauf möglich. Danach umfasst dieses Ensemble verschiedenartiger Genres und Gattungen der Musik in den westlichen Industrieländern (in anderen Weltregionen ergäbe sich ein völlig anderer Befund!):
 
∙ die verschiedenen Formen der praktisch angewandten Musik wie die Marschmusik (Marsch) oder die Tanzmusik,
 
∙ die verschiedenen Formen der Unterhaltungsmusik wie die Salonmusik, die Caféhaus-Musik, die Barmusik, die Blasmusik und die »populäre Klassik«,
 
∙ die musikalischen Formen des unterhaltenden Musiktheaters wie die Operette, das Musical, aber auch die musikalischen Possen und Schwänke des 19. Jahrhunderts,
 
∙ Genremischformen wie die Musik der Revue, des Vaudeville, des Varietés, des Kabaretts, der Music-Hall, des Zirkus, der Estrade,
 
∙ aus ihrem ursprünglichen ethnischen und funktionalen Zusammenhang herausgenommene und zur Darbietung gebrachte bzw. durch die Massenmedien verbreitete Volksmusik,
 
∙ einzelne selbstständig gewordene Liedformen wie das Couplet, das Chanson, den Schlager, das Brettllied, aber auch die volkstümlichen Lieder des 19. Jahrhunderts wie die Gassenhauer, Küchenlieder, Bänkelsang, Moritaten, die politischen Lieder wie die Topical Songs, Protestsongs, Unionsongs und Strikeballads,
 
∙ besonders in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg die Filmmusik,
 
∙ für das 20. Jahrhundert mit zunehmender Bedeutung die verschiedenen Formen der afroamerikanischen Musik bis hin zum Jazz,
 
∙ seit Anfang der Sechzigerjahre die Rockmusik,
 
∙ Musik als emotionelles Stimulans oder rein illustratives Mittel, als musikalischer Hintergrund für artistische oder sportliche Darbietungen (Eiskunstlauf), die Musik zur Werbung, die funktionelle Musik in der Art der Muzak,
 
Signature-Tunes usw.
 
Die Bezeichnung populäre Musik dafür ist abgeleitet von dem amerikanischen Terminus Popular Music, der, so unscharf dieser Begriff auf den ersten Blick auch scheint, den Sachverhalt, um den es geht, weit genauer umreißt als Begriffsbildungen wie »leichte Musik«, »Tanz- und Unterhaltungsmusik«, »U-Musik« und dergleichen. Im Unterschied dazu ist die Bezeichnung populäre Musik nämlich nicht allein an die Musik gebunden, sucht diese so verschiedenartigen Genres und Gattungen nicht vergeblich auf ein- oder mehrere musikalisch definierte Kriterien wie eben leichte Fasslichkeit und Eingängigkeit (leichte Musik) oder Tanzbarkeit und Unterhaltsamkeit (Tanz- und Unterhaltungsmusik) festzulegen. Sie verweist vielmehr auf den Funktions- und Wirkungszusammenhang einer solchen Musik, in dem ihre Popularität, also ihr Verbreitungsgrad und damit ihr realer Stellenwert in der Lebenspraxis großer Massen von Hörern, ein wesentliches Moment ist. Das schließt nicht aus, dass es darunter immer auch Entwicklungen gibt, die stärker experimentellen Charakter tragen und nicht unmittelbar das Kriterium massenhafter Verbreitung erfüllen. Mittelbar stehen aber auch sie letztlich im gleichen Zusammenhang, denn sie zielen mit künstlerischen Experimenten auf die Funktions- und Wirkungsbedingungen von populärer Musik und setzen sich früher oder später dann doch zumindest partiell in den wirksamen Formen dieser Musik um.
 
Allein schon an der bloßen Aufzählung dessen, was an Musik einmal populär war oder es heute ist, lässt sich ablesen, wie wenig dem mit einer rein musikalischen Definition beizukommen ist, denn neben musikalisch beschreibbaren Formen und Typen (z. B. Chanson, Couplet, Schlager, die Stilformen von Jazz und Rockmusik) spielen eine wesentliche Rolle Besetzungsstereotype (Blasmusik), Aufführungsorte (Caféhaus-Musik, Barmusik), Darbietungsformen (Bühnenaufführung von Volksmusik als Form der populären Musik im Unterschied zur musikalischen Praxis des Volkes selbst), Gebrauchsweisen (Tanz- und Marschmusik), Veranstaltungsformen in der Kombination mit anderen Künsten (z. B. Revue, Kabarett), Inhalte (die musikalische Komödie als Operette oder Musical), Verbreitungsgrad (z. B. bei der Filmmusik, denn nicht jede Filmmusik ist populäre Musik, oder bei der »populären Klassik«), Rezeptionsweisen in der Kombination mit außermusikalischen Sachverhalten (Rezeption von Musik als Hintergrund für artistische, sportliche Darbietungen, bei der Werbung usw.) und soziale Trägerschichten (z. B. afroamerikanische Musik als die Musik der schwarzen Amerikaner, Rockmusik als jugendspezifische Form von Musik). Dennoch liegen in der Bestimmung dieses so unterschiedlich zusammengesetzten Ensembles musikalischer Genres und Gattungen als populäre Musik durchaus übergreifende Aspekte, die sie von anderen Formen der Musik abheben und zugleich dem inneren Zusammenhang musikalischer und sozialer Faktoren hier gerecht werden.
 
So bedarf die Popularität von Musik ihrer Produktion und Verbreitung auf einer Massenbasis, denn nur dann vermag sie auch massenhaft angeeignet und also populär zu werden. Populäre Musik ist damit an technische und finanzielle Apparaturen gebunden, die ihre massenhafte Produktion und Verbreitung überhaupt erst ermöglichen. Das erste bedeutende Medium der Massenproduktion von Musik waren die Notendrucke (Sheet-Music), die mit der Einführung der Lithographie Anfang des 19. Jahrhunderts in massenweiser billiger Herstellung möglich wurden. Mit der kommerziellen Nutzung des Edisonschen Phonographen ab 1892 (Schallplatte) folgten dem die technischen Massenkommunikationsmittel und schließlich die heutigen audiovisuellen Massenmedien. Aber die Massenproduktion und -verbreitung von Musik ermöglichte nicht nur ihre massenhafte Aneignung, sondern hat die Popularität von Musik vielmehr nun unmittelbar auch zur Voraussetzung, weil anders diese immer aufwendigeren technischen und finanziellen Apparaturen sinnvoll nicht in Bewegung zu setzen sind. Massenproduktion von Musik setzt ein massenhaftes Bedürfnis nach Musik voraus, das im Zuge der Herausbildung der auf die kapitalistische Produktionsweise gegründeten bürgerlichen Gesellschaft, der Zerstörung der feudalen oder halbfeudalen ländlichen Produktionsweise entstanden ist. Die gesellschaftliche Durchsetzung der industriellen Massenproduktion auf kapitalistischer Grundlage bedeutete die Konzentration großer Massen von Menschen an den Zentren der Produktion und im Ergebnis des Industrialisierungsprozesses die Angleichung der Lebensbedingungen über ehemalige nationale und territoriale Besonderheiten hinweg. Als Folge des kapitalistischen Systems der Arbeitsorganisation mit seiner Trennung von Arbeits- und Wohnstätte, der stundenmäßigen Fixierung der Arbeitszeit und damit der Herausbildung von »Freizeit« als besonderer Lebensform, die von den isolierten Reproduktionsbedürfnissen der Arbeitskraft beherrscht wird, lösten sich die überlieferten kulturellen Aktivitätsformen mit der Volksmusik als aktiver Musikpraxis der Volksmassen auf. Die nun massenhaft gleichen Lebensbedingungen führen zur Ausbildung massenhaft gleicher Bedürfnisse, wobei insbesondere in der neu entstandenen Lebensform »Freizeit« sich auch das Bedürfnis nach Musik als Bestandteil einer sich hier herausbildenden Massenkultur, aber jetzt mit den Massen als bloß noch musikalischen Konsumenten, nicht mehr auch Produzenten, behauptet. Durch den Industrialisierungsprozess sind also die Produktions- und Wirkungsbedingungen von Musik entscheidend verändert worden. In diesem Zusammenhang wird nun Popularität zu einer besonderen sozialen Qualität von Musik, die ihr aus dem Umstand erwächst, dass die hier für massenhaft gleiche Bedürfnisse massenhaft produzierte und verbreitete Musik von eigens darauf spezialisierten Komponisten hergestellt wird, nicht mehr aus der musikalischen Praxis der Massen selbst hervorgeht wie die Volksmusik. Jetzt nämlich muss Musik, noch bevor sie ihre Hörer erreicht, um sie überhaupt erreichen zu können, die Eigenschaften der Popularität im Sinne ihrer Eignung für eine solche massenhafte Produktion, Verbreitung und Aneignung besitzen. Das aber schließt die sozialen Bedingungen und Verhältnisse ihrer Produktion, Verbreitung und ihrer Rezeption mit ein. Zunächst erscheint das als ein Aspekt der Warenform von Musik, die sie angenommen hat, als durch ihre Produktion und Verbreitung auf einer Massenbasis auch Verwertungsbedingungen für Kapital gesetzt waren und ein selbstständiges Musikunternehmertum (Verleger, Musikalienhändler, Agenturen, Musikveranstalter usw.) sich herausbilden konnte. Hier reduziert sich Popularität auf das Moment der Verkäuflichkeit von Musik. Das jedoch ist nur ein quantitativer Indikator für eigentlich qualitative Prozesse.
 
So umfasst die Popularität von Musik:
 
∙ ihre Eignung für die jeweiligen Produktions- und Verbreitungstechnologien (z. B. Anpassung in Satzweise und Faktur an variables Druckarrangement; Anpassung an vorgegebene Spieldauer der Schallplatte von maximal 4 1/2 Minuten bis zur Einführung der Langspielplatte beziehungsweise 3 Minuten bei der Single usw.);
 
∙ ihre Realisierbarkeit in Aufführungsstätten, in denen sie wirklich Massen von Hörern zugänglich ist, bei gleichzeitiger Anpassung an die jeweiligen akustischen Gegebenheiten und daraus folgenden Besetzungsformen (Blasorchester für Darbietung unter freiem Himmel, kleine Besetzungen in Tanzbars und Cafés usw.);
 
∙ ihre Funktionen in der Lebenspraxis ihrer Hörer, die durch den gesellschaftlichen Charakter der Lebensweise geprägt sind und sowohl a) praktisch vermittelte Gebrauchsansprüche wie die musikalische Organisation körperlicher Bewegungsabläufe beim Tanzen oder Marschieren, b) geistig vermittelte Ansprüche wie die Erfahrung individueller Subjektivität, von Genuss- und Erlebnisfähigkeit, die Betätigung und Bestätigung des eigenen Selbst, als auch c) reproduktive Ansprüche wie Erholung, Entspannung, Geselligkeit einschließen und zugleich mit besonderen Aneignungsweisen wie einer vorwiegend zerstreuten, als begleitendes Moment für andere Formen der Lebenstätigkeit organisierten Rezeption verbunden sind. Zusammenfassend werden diese Funktionen im Alltag ihrer Hörer daher auch als Unterhaltung bezeichnet.
 
Realisiert ist das durch die Häufung und Bevorzugung einzelner musikalischer Gestaltungsmittel, ohne dass das angesichts der realen Verschiedenartigkeit der populären Musik, ihrer unterschiedlichen Wurzeln und Traditionsbezüge, ihrer durch die Entwicklung der Gesellschaft Veränderungen unterliegenden Funktions- und Wirkungsbedingungen, sich ändernden Produktions- und Verbreitungsformen, auf einen Katalog von musikalischen Techniken und Verfahrensweisen festzuschreiben wäre. Aber im Unterschied zur artifiziellen Tradition der Musik entwickeln sich die Genres und Gattungen der populären Musik in der Betätigung und Bestätigung eines durch viele zugleich und gleichartig vollzogenen Umgangs mit Musik im Alltag, nicht in einer vom Alltag abgehobenen, besondere Zeit, Aufmerksamkeit und Konzentration erfordernden anschauenden Aneignung. Damit wird die Variantenbildung von relativ feststehenden, im kollektiven Gebrauch herauskristallisierten Strukturmodellen (Liedform, Tanzrhythmen, Blues-Schema usw.) zur Grundlage dieser Musik, die darin mit einer relativen Kurzlebigkeit oft auch aufgeht. Die Zentriertheit um einen Grundton, also tonaler Aufbau, Bewegungsvorgänge nachbildende Metren und rhythmische Formeln wie überhaupt die Körperbezogenheit des Musikalischen auch in Form der Nachsingbarkeit beispielsweise, die Reihung und Gruppierung einer relativ begrenzten, im Gedächtnis speicherbaren und damit auch bei dekonzentrierter Aufnahme nachvollziehbaren Anzahl komplexer musikalischer Grundelemente (harmonische, melodische und rhythmische Formeln usw.), eine klare und überschaubare Gliederung und Periodisierung des musikalischen Ablaufs zumeist nach dem Symmetrieprinzip lassen sich als allgemeinste musikalische Merkmale der populären Musik fixieren. Dahinter steht ein anderer Begriff von Kunst, mit anderen ästhetischen Wertbeziehungen und sozialen Normativen als in der klassisch-romantischen Tradition einer weltanschaulich und erkenntnistheoretisch fundierten »Tonkunst«, für den die Subjektivität des Ausdrucks durch eine immer differenzierter strukturierte Gestaltung musikalischer Abläufe, Konstruktivität als rationalisierte Formung eines beziehungsreich in sich ruhenden »Werk«-Ganzen, das der Entschlüsselung bedarf und Verstehen voraussetzt, keine Rolle spielen.
 
Damit ist die populäre Musik also ein Ensemble von musikalischen Genres und Gattungen, das aus den durch die Industrialisierung der Gesellschaft tiefgreifend veränderten Funktions- und Wirkungsbedingungen für Musik hervorgegangen ist, als Bestandteil von Massenkultur funktioniert und auf einer Massenbasis produziert und verbreitet wird. Die Popularität dieser Genres und Gattungen ist eine ihnen eigene besondere soziale Qualität, in der sich ihre Eignung für eine derartige massenhafte Produktion, Verbreitung und Aneignung ausdrückt. Popularität als besondere soziale Qualität von Musik umfasst sowohl die sozialen Bedingungen und Verhältnisse ihrer Produktion, Verbreitung und Aneignung in der Gesellschaft als auch im Zusammenhang damit spezifische musikalische Besonderheiten, in denen sich ihre gesellschaftlichen Existenzbedingungen jeweils musikalisch realisieren.
 
Entstanden ist populäre Musik, als die gesellschaftlichen Bedingungen ihrer Existenz im Zusammenhang mit der kapitalistischen Industrialisierung der Gesellschaft wie auch die technischen Voraussetzungen ihrer massenhaften Produktion und Verbreitung durch die Einführung der Lithographie in das Verlagswesen herausgebildet waren. Ihre Entstehung vollzog sich auf zwei unterschiedlichen Wegen, die beide durch die Warenbeziehung vermittelt sind und den Charakter der populären Musik bis beute geprägt haben: einmal über die Professionalisierung der Volksmusik und zum anderen über die Popularisierung der Kunstmusik. Der Übergang der volksmusikalischen Tradition an professionelle Komponisten begann bereits gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Er war eine Folge des mit der Veränderung in der Lebensweise der Massen verbundenen, rasch steigenden Musikbedarfes, der dazu führte, dass die Volkslieder und Volkstänze nun für das Volk zunächst in möglichst genauer Kopie der Eigenarten dieser Musik von sich darauf spezialisierenden Komponisten gleichsam »nachkomponiert« wurden. Typisch in dieser Hinsicht waren die volkstümlichen Lieder, die in der Nachahmung des Volksliedes entstanden, wie auch die Herausbildung etwa des Walzers aus dem volksmusikalischen Ländler. Ganz ähnliche Vorgänge lassen sich später dann auch etwa bei der Umwandlung des Countryblues in den Vaudeville-Blues (Blues) oder der euroamerikanischen Volksmusik in die Country-and-Western-Music beobachten. Die Volksmusik hörte damit nun nicht etwa auf zu existieren, entwickelte sich angepasst an die Bedingungen des Lebens in der Stadt vielmehr weiter, obwohl sie unter den Bedingungen der städtischen Lebensweise mehr und mehr in den Hintergrund geriet. Die Popularisierung der Kunstmusik als eine weitere Wurzel der populären Musik steht im unmittelbaren Zusammenhang mit der bürgerlichen Emanzipationsbewegung und dem Aufklärungsbestreben des revolutionären Bürgertums, das 1781 in Johann Heinrich Pestalozzis Forderung »Das ganze Volk soll an der Musik teilhaben« (J. H. Pestalozzi, Die Abendstunde eines Einsiedlers, Gesammelte Werke I, Leipzig/Berlin 1921, 271) seinen auf die Musik übertragenen Ausdruck fand. Durch Bearbeitungen wurden Teile oder ganze Werke Anfang des 19. Jahrhunderts für Aufführungen auf Plätzen, in Caféhäusern, Restaurants — überall da, wo sie das Volk erreichen konnten —, und für die Hausmusik vor allem der kleinbürgerlichen Schichten des Volkes eingerichtet. Auch in die verschiedenen Formen der Gebrauchsmusik gingen musikalisch-stilistische Techniken der artifiziellen Tradition ein, etwa in die Tanzmusik in Form des Quartett-Walzers, eines Vorläufers des Wiener Walzers, so wie dieser selbst vor allem dann als Konzertwalzer eine Synthese mit der artifiziellen Musik darstellt. Allerdings fanden diese ideologisch motivierten Demokratisierungsbestrebungen im Musikleben ihre Grenzen an den ökonomischen Interessen des Bürgertums, die sich nun auch bei der Musikproduktion und -verbreitung zunehmend Geltung verschafften, sodass solche Popularisierungsversuche der Kunstmusik real einer Trivialisierung und Verflachung gleichkamen, zumal etwa die Praxis der Bearbeitung — ökonomisch außerordentlich profitabel, weil dasselbe Musikstück in unterschiedlichen Bearbeitungen gleich mehrfach verkauft werden konnte — die Vorlagen zwangsläufig auf ihre harmonisch-melodischen Umrisse und den Oberstimmenverlauf reduzierte. Besonders charakteristisch dafür war dann die Salonmusik, die die artifizielle Tradition unmittelbar in die populäre Musik, vor allem in Form der Haus- und Caféhaus-Musik, zu übertragen suchte und so die darin liegende Tendenz zur Verflachung und Banalisierung bis hin zum musikalischen Kitsch umso deutlicher werden ließ. Doch die Übernahme von musikalischem Material, Verfahrensweisen und Techniken aus der artifiziellen Musiktradition blieb ein wichtiges Moment in der Entwicklung der populären Musik bis zur Rock- und Popmusik unserer Tage, auch wenn die ursprünglich einmal zugrunde liegende Absicht der Popularisierung der Kunstmusik für die populäre Musik selbst dann keine Rolle mehr spielte und sie unter den Bedingungen ihrer massenhaften Produktion als Ware vielmehr in ein äußerst widersprüchliches Verhältnis zur artifiziellen Musiktradition geriet, das oft auch als polarer Gegensatz in der Gegenüberstellung von »ernst« und »leicht« aufgefasst worden ist (siehe unten).
 
So ist also populäre Musik ein Syntheseprodukt aus volksmusikalischen Traditionen einerseits und der artifiziellen Musiktradition andererseits und hat sich in dieser Synthese bis in die Gegenwart hinein entwickelt. Schon das markiert einen prinzipiellen Unterschied zur Volksmusik, sodass die populäre Musik nicht etwa als eine lineare Weiterentwicklung der Volksmusik unter nur veränderten Bedingungen anzusehen ist. Vielmehr werden auch die aus der Volksmusik unmittelbar übernommenen Tanz- oder Liedformen gerade dadurch zum Bestandteil der populären Musik, indem sie aus der volkstümlichen Praxis herausgelöst werden. So unterscheidet sich die populäre Musik von der Volksmusik eben auch
 
∙ durch die ihr zugrunde liegende klare Trennung von musikalisch produzierenden und musikalisch konsumierenden Gruppen, wogegen zu den Wesensmerkmalen der Volksmusik gehört, dass hier die musikalische Praxis nicht auf einer solchen Trennung beruht, obwohl auch die Volksmusik schon etwa seit dem 12. Jahrhundert mit den Spielleuten einen professionellen Musikerstand kannte;
 
∙ durch die ausgewiesene Autorenschaft eines Komponisten, wogegen Volksmusik anonym bleibt und einem ständigen Prozess kollektiver Veränderung (Umsingen) unterliegt;
 
∙ durch die Verbreitungsform auf der Basis technischer Medien (Druck oder Schallaufzeichnung), während die Volksmusik in mündlicher Überlieferung verbreitet wird;
 
∙ durch ihre Massenproduktion als Ware nach zunehmend industriellem Muster und deren Organisation auf einer arbeitsteiligen Grundlage (Trennung von Komponist, Arrangeur, Texter usw.);
 
∙ durch ihre Funktion in der Lebenspraxis ihrer Hörer, die sich mit den Veränderungen in der Lebensweise ebenfalls erheblich verändert hat und nun in Richtung Unterhaltung tendiert.
 
Trotz allem blieb jedoch die Volksmusik in ihren verschiedenen Erscheinungsformen bis heute eine der wichtigsten Wurzeln der populären Musik, wurden immer wieder Volksmusikpraktiken unterschiedlichster Herkunft auch unmittelbar in die populäre Musik übernommen (beispielsweise setzt sich das Liedrepertoire von Joan Baez hauptsächlich aus neu textierten alten englischen Balladen und Volksliedern aus dem Gebiet der Appalachen im Osten der USA zusammen), ohne aber eben darin weiter Volksmusik zu sein.
 
Einen Wendepunkt für die Entwicklung der populären Musik bedeutete die Einführung des Schallaufzeichnungsverfahrens nach dem Prinzip des Edisonschen Phonographen und auf dieser Grundlage dann die Herausbildung der technischen Massenkommunikationsmittel. Nicht nur wurde die populäre Musik damit tatsächlich zu einem alltäglichen Bestandteil der Lebensbedingungen der Menschen, in der technischen Konserve dem unmittelbaren und beliebigen Zugriff verfügbar gemacht, sondern vor allem konnte sie, nun auch in ihrer klanglichen Realisierung industriellen Produktionsmethoden unterworfen, in ihrer fertigen klanglichen Gestalt als Ware vertrieben werden. Daraus ging zum einen als qualitativ neuartiges Moment eine Symbiose von Musik und Technik, zum anderen aber auch ein neues Verhältnis zwischen Musik und Ökonomie hervor. Schon die Verlagsproduktion hatte mit der Massenherstellung von Notendrucken einen Grad der Industrialisierung und Rationalisierung erreicht, in dem die ökonomischen Notwendigkeiten (Effektivitäts- und Absatzzwang) gegenüber den künstlerischen Belangen eine zunehmende Priorität erhielten. Nun entstand eine weitgehend monopolisierte Musikindustrie als Bestandteil kapitalistisch organisierter Kultur- und Medienindustrie mit der Produktion und dem Vertrieb von Schallplatten im Zentrum, die die Herstellung von Musik in einen Wirtschaftszweig verwandelte und zu einem umsatzstarken Industriebereich gemacht hat. Für die populäre Musik bedeutete das, dass ihre Entwicklung nun nicht minder auch ökonomischen Gesetzmäßigkeiten folgen musste, die Ökonomie zu einem nicht mehr bloß äußerlichen, sondern zu einem immanenten Moment von Musik geworden ist. Daraus erwächst ihr die Tendenz zur musikalischen Standardisierung, zur Produktion nach dem Gesetz der Serie und unter dem Gesetz der Ökonomie der Zeit. Zum Ausdruck dessen werden die musikalischen Modewellen, die sich nach den Absatzinteressen der Industrie richten, in immer rascherer Folge einander ablösen, die nationalen Grenzen von Musikkultur zu sprengen beginnen und sich als internationale Erscheinungsform der Entwicklung der populären Musik behaupten. Zugleich erscheint, in dem Maße, wie hier die Musik industrialisiert und internationalisiert wird, sie selbst immer stärker personalisiert, zugeschnitten auf die Person des Stars, als Bestandteil seines Image. Trotzdem wäre es verfehlt, darin nur eine kommerzielle Deformation von Musik sehen zu wollen, nur den Ausdruck der Kunstfeindlichkeit kapitalistischer Kulturindustrie. Vielmehr verbirgt sich dahinter eben auch eine qualitativ neue gesellschaftliche Organisationsform von musikalischer Praxis, mit anderen, nämlich vorwiegend arbeitsteiligen Methoden der Produktion von Musik, in der die eigentlich schöpferische Leistung Ergebnis einer kollektiven Anstrengung und nur noch in dieser Form möglich ist. Hier wird die Musik zum unmittelbaren Resultat des Zusammenwirkens vieler an der Herstellung ihrer klanglichen Gestalt beteiligten Menschen, ist als Einzelleistung der herausragenden Individualität des traditionellen Komponisten unmöglich geworden, weil die schöpferische Idee, die Bedingungen ihrer Realisation (die organisatorischen und technischen Voraussetzungen ihrer Aufführung und Produktion) und ihre Realisierung selbst (das Musizieren einschließlich seiner technischen Umsetzung im Studio) nicht mehr voneinander getrennte gesellschaftliche Sphären (Komponist, Verlagswesen, Konzertwesen, Musiker), sondern zu einer Einheit geworden sind. Neben dem Komponisten und Arrangeur sind die Produzenten und Toningenieure in den Studios der Massenmedien, die Techniker bei der Liveaufführung heute gleichermaßen schöpferisch am künstlerischen Gesamtergebnis beteiligt. Auch die Rolle der Interpreten hat sich dabei insofern verändert, als ihr Anteil an dem künstlerischen Endergebnis mittlerweile so groß geworden ist, dass sie zumeist nun nicht mehr austauschbar sind, ohne dass ein anderes Stück Musik entsteht. Eine nachhaltige Konsequenz daraus ist die Bildung von Gruppen wie in der Rockmusik als eine kollektive Einheit von in der Regel Komponist, Arrangeur, Texter, Interpret, Techniker und Organisatoren (Management). In einer solchen Organisationsform musikalischer Praxis liegt eine Vielzahl neuer Möglichkeiten des Musizierens, die mit der Verbindung von Musik und Technik, der Erschließung neuer klanglicher Ausdrucksmöglichkeiten für die Musik, mit ihrer Ausrichtung auf die Massen als Adressaten, auf die massenhaft gemachten individuellen Erfahrungen und daraus hervorgehenden neuen Inhalten des Musizierens, mit ihrer Verankerung in der Erlebniswelt, der Fantasie und dem Lebenszusammenhang der Massen, mit der Freisetzung neuer Genüsse und neuartiger Umgangsweisen mit Musik im Alltag verbunden sind. Freilich setzt sich das unter den Bedingungen der Produktion von Musik als Ware in den Verhältnissen kapitalistisch organisierter Kulturindustrie nur sehr widersprüchlich durch, ist behaftet zugleich auch mit der gegenläufigen Tendenz zur Einschränkung der musikalischen Produktivität, ihrer Normierung und Standardisierung nach den Mustern der einmal zu Erfolg gekommenen Titel (Kommerzialisierung), ihrer Eingliederung in die ideologischen Mechanismen herrschaftsstabilisierender Bedürfnisabwehr und manipulativer Bedürfnisbefriedigung.
 
Populäre Musik ist heute also eine hochgradig industrialisierte Form von Musik mit einer verwirrenden und kaum noch überschaubaren Vielfalt von Erscheinungsformen, die im raschen Wechsel der Modewellen einander ablösen und in hohem Maße personalisiert, also auf die Stars unter ihren Interpreten ausgerichtet sind. Sie bewegt sich in Widersprüchen, in denen sie zum einen ein Ausdruck der Entfaltung musikalischer Produktivkräfte im Gesamtzusammenhang der modernen Massenkommunikationsmittel und den darüber freigesetzten neuen sozialen, technischen und musikalischen Möglichkeiten des Musizierens ist und zum anderen als Moment der ökonomischen und ideologischen Reproduktion des sie tragenden Gesellschaftszusammenhangs funktioniert.
 
Vom Standpunkt der artifiziellen Musik aus, wie er sich auch in der Musikwissenschaft etwa niedergeschlagen hat, ist in dieser Widersprüchlichkeit immer nur die eine, auf Kommerzialisierung und Verflachung ausgerichtete Seite gesehen worden und die populäre Musik als Negation von Kunst, Surrogat, Kitsch und bloßer Kommerz der Musik als Tonkunst abstrakt gegenübergestellt worden, was seinen Ausdruck auch in pauschalen begrifflichen Festlegungen wie »U-« und »E-Musik«, »ernste« und »leichte« Musik, »Kunst-« und »Trivialmusik« usw. gefunden hat. Übersehen worden ist darin, dass die ästhetischen Maximen der artifiziellen Kunstpraxis auf die populäre Musik nicht übertragbar sind, weil sie in kulturellen Wertbeziehungen ganz anderer Natur verankert ist. Das sind Wertbeziehungen, die sich in den Alltagszusammenhängen herausgebildet haben, mit einem anderen Begriff von Kunst, anderen sozialen und musikalischen Erfahrungen, anderen Vorstellungen über Wesen und spezifische Leistungsfähigkeit von Kunst, anderen sozialen Normativen und anderen Gebrauchs- und Umgangsweisen mit Musik verbunden sind. Zwar ist die populäre Musik in ihrer ästhetischen Spezifik tatsächlich etwas ganz anderes als die artifizielle Musik. Wenn das aber aus einem Unterschied zu einem Gegensatz gemacht wird, ihre Verschiedenheit von den Traditionen der artifiziellen Musik als deren Negation erscheint, dann sind die Kunsterfahrungen nur einer sozialen Schicht, des Bildungsbürgertums, normativ verallgemeinert.

Universal-Lexikon. 2012.