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Historismus
His|to|rịs|mus 〈m.; -; unz.〉 Sy Historizismus
1. Denkweise, die die Erscheinungen des Lebens nur aus ihren historischen Gegebenheiten u. ihrer historischen Entwicklung heraus zu verstehen u. zu erklären sucht
2. Überbetonung des Geschichtlichen einer Sache
[zu lat. historia „Geschichte“]

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His|to|rịs|mus, der; -, …men:
1. <o. Pl.> Geschichtsbetrachtung, die alle Erscheinungen aus ihren geschichtlichen Bedingungen heraus zu erklären u. zu verstehen sucht.
2. (bildungsspr.) Überbewertung des Geschichtlichen.
3. Eklektizismus (2 a).

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Historịsmus
 
der, -,  
 1) Geisteswissenschaften: geschichtsbezogenes Denken, insbesondere die Auffassung, die von der Geschichte als umfassendem Zusammenhang geistigen Lebens, von der einmaligen Individualität der geschichtlichen Erscheinungen und von dem unaufhörlichen, unbegrenzbaren und gesetzlosen Fließen des Geschichtlichen ausgeht. Vorbereitet wurde der Historismus durch die Einführung des historischen Entwicklungsgedankens (v. a. G. B. Vico). Entscheidende Anstöße gingen sowohl von dem Individualitätsgedanken im Klassizismus und Romantizismus des 18. Jahrhunderts (A. Shaftesbury, J. G. von Herder, Goethe) als auch von der universalhistorischen Theorie G. W. F. Hegels aus.
 
Die Entwicklung des Historismus i. e. S. wurde durch die historische Schule und die von ihr geförderte historisch-kritische Quellenforschung eingeleitet. Außer von der Geschichtswissenschaft (L. von Ranke, J. G. Droysen; später F. Meinecke) wurde die historische Methode im 19. Jahrhundert von vielen Geisteswissenschaften übernommen, so der Sprach-, der Rechtswissenschaft, der Nationalökonomie und der Theologie. Auf dem Höhepunkt des Historismus wurde die historische Sichtweise auf alle Wissenschaften außerhalb der Naturwissenschaften ausgedehnt. Wesentliche methodische Grundlagen (Hermeneutik) schuf W. Dilthey im Rahmen einer allgemeinen systematischen Begründung der Geisteswissenschaft. In der Philosophie des Neukantianismus (W. Windelband, H. Rickert) erschien die Geschichte als Zentrum der Kulturwissenschaft.
 
Seit der Wende zum 20. Jahrhundert trat die Eigenständigkeit der Fachwissenschaften stärker hervor; der Historismus wurde zunehmend in seiner Problematik gesehen, die im Historismus gegebene Tendenz zu Identitäts- und Wertverlust, zum Abgleiten der Geschichtswissenschaft in einen historischen Positivismus oder Relativismus kritisiert (v. a. von E. Troeltsch). Während sich in Italien B. Croce um seine Fortbildung bemühte, bezeichnen in Deutschland der Begriff des Typus, mit dem von der historischen Methode unabhängige Erkenntnishilfen in die Psychologie (W. Dilthey), in die Logik (W. Wundt), in Sozialwissenschaft und Soziologie (C. Menger, M. Weber) eingeführt wurden, sowie die Aufnahme des Klassenbegriffs und des Gedankens einer fortschreitenden Entwicklung nach dem Vorbild der Lehre von K. Marx und F. Engels die Abwendung vom Historismus. Sie steht in Beziehung zu einer weit verbreiteten Kritik am geschichtlichen Denken, die vom Positivismus, von S. Kierkegaard und der auf ihn zurückgehenden Existenzphilosophie sowie vom Antihistorismus F. Nietzsches gefördert worden ist. - Als Historizismus kritisierte K. R. Popper sozialwissenschaftliche Theorien (besonders Marxismus), die den geschichtlichen Ablauf absoluten Gesetzen unterwerfen und sich mit der Voraussage historischer Entwicklungen befassen.
 
Literatur:
 
E. Troeltsch: Der H. u. seine Probleme (1922, Nachdr. 1961);
 E. Troeltsch: Der H. u. seine Überwindung (1924, Nachdr. 1966);
 F. Meinecke: Die Entstehung des H. (21946);
 W. J. Mommsen: Die Geschichtswiss. jenseits des H. (21972);
 H. Schnädelbach: Geschichtsphilosophie nach Hegel. Probleme des H. (1974);
 K. R. Popper: Das Elend des Historizismus (a. d. Engl., 61987);
 F. Jaeger u. J. Rüsen: Gesch. des H. Eine Einf. (1992);
 J. Rüsen: Konfiguration des H. Studien zur dt. Wissenschaftskultur (1993);
 A. Wittkau: H. Zur Gesch. des Begriffs u. des Problems (21994);
 O. G. Oexle: Geschichtswiss. im Zeichen des H. (1996).
 
Hier finden Sie in Überblicksartikeln weiterführende Informationen:
 
Geschichte: Was ist Geschichte?
 
 2) Kunstgeschichte: der Rückgriff auf historische Stile, v. a. in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts. Der Historismus wurde bis in die 1960er-Jahre weitgehend negativ beurteilt, indem man ihm Eklektizismus und Mangel an Originalität vorwarf. Hingegen sieht die heutige Forschung im Stilpluralismus des Historismus den Versuch, im Zeitalter des Positivismus Geschichte zu bewahren und das durch die Romantik geweckte Geschichtsbewusstsein in Architektur und Kunst Gestalt werden zu lassen. Vorbereitet haben den Historismus die philosophische Ästhetik (G. W. F. Hegel) und die frühe Kunstwissenschaft (C. F. von Rumohr). Gerechtfertigt sah sich der Historismus durch die wiederholte Restitution der Antike (Renaissance, Klassizismus, Neoklassizismus). Historisierende Tendenzen entstanden in der Baukunst erstmals an der Wende zum 17. Jahrhundert, dann im frühen und der Mitte des 18. Jahrhunderts, wobei der Rückbesinnung auf das Mittelalter eine weit über die bildende Kunst hinausführende Bedeutung für die Kultur des 19. Jahrhunderts zukommt (Neugotik). Die seit J. G. Herder wirksame Besinnung auf nationale Kunst wurde zunächst an der Neugotik demonstriert, später wurden Sonderformen historischer Stile (deutsche Renaissance, rheinische Romanik, Tudor-Gotik, Palladianischer Klassizismus) als nationale Stile gefeiert. Neben nationalen und regionalen Aspekten bestimmten funktionale Gesichtspunkte die Wahl eines Stils. Für Parlamente, national hervorgehobene Kirchen, Schlösser, gelegentlich für das Wohnhaus galten gotische Elemente als angemessen, während man kulturelle Bauwerke (Theater, Oper, Museen) im Stil der Renaissance errichtete (Neurenaissance). Das reich gewordene Bürgertum wählte im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts den Neubarock als Stil seiner Repräsentationsbauten sowie seiner prunkvollen Hotels. Für Bahnhofsgebäude wurde häufig die Verbindung von Formen der Neurenaissance mit denen der Hallen der römischen Thermen gewählt. Brücken, Zeugnisse der von Ingenieuren errichteten Eisenarchitektur, erhielten Zutaten im Stil der Neuromanik.
 
Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts griff der Historismus auch außereuropäische Kunstformen auf, darin durchaus der kosmopolitischen Haltung des Großbürgertums folgend. Maurische, indische und japanische Anregungen, zu Beginn des 20. Jahrhunderts sogar Rückgriffe auf die primitive Kunst führten zu Entwicklungen, die den Historismus überwanden. Dies geschah aber weniger in Architektur, Malerei und Plastik als im Kunsthandwerk.
 
Die Auseinandersetzung zwischen retrospektivem Historismus und zukunftsbezogenem funktional-konstruktivistischem Stil vollzog sich außer in den technischen Bauwerken in den seit 1851 stattfindenden Weltausstellungen. Als zukunftsbezogene Lösungen im Zeitalter des Historismus können der Kristallpalast der Londoner Weltausstellung 1851 von J. Paxton und die Bauten der Pariser Weltausstellung von 1900 genannt werden.
 
Historisierende Tendenzen finden sich auch in Malerei und Plastik des 19. Jahrhunderts, jedoch lassen sich die führenden Bildhauer und Maler nur selten einer stilistisch eindeutigen Richtung zuordnen. Die Hauptaufgabe fand die Plastik des Historismus in ihrer Bindung an die Architektur, etwa bei der Restaurierung der englischen und französischen Kathedralen und bei der Ausstattung von bürgerlichen Monumentalbauten wie der Pariser Oper. In der Malerei behaupteten sich historisierende Strömungen unter den deutschen Nazarenern zu Beginn und den englischen Präraffaeliten in der Mitte und der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts.
 
Literatur:
 
Das pompöse Zeitalter, hg. v. H. J. Hansen (1970);
 
H. u. Schloßbau, hg. v. R. Wagner-Rieger u. a. (1975);
 B. Mundt: H. Kunstgewerbe zw. Biedermeier u. Jugendstil (1981);
 V. W. Hammerschmidt: Anspruch u. Ausdruck in der Architektur des späten H. in Dtl., 1860-1914 (1985);
 
H. Angewandte Kunst im 19. Jh., Ausst.-Kat. (1987);
 R. Middleton u. D. Watkin: Klassizismus u. H., 2 Bde. (1987);
 
H. 1815-1900, bearb. v. D. Dolgner (1993).

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His|to|rịs|mus, der; -, ...men: 1. <o. Pl.> Geschichtsbetrachtung, die alle Erscheinungen aus ihren geschichtlichen Bedingungen heraus zu erklären u. zu verstehen sucht. 2. (bildungsspr.) Überbewertung des Geschichtlichen. 3. Eklektizismus (2).

Universal-Lexikon. 2012.