islamisches Recht,
arabisch Scharia, türkisch Şeriạt [ʃ-], Scheriạt, das religiös begründete, auf Offenbarung zurückgeführte Recht des Islam; es regelt nicht nur Rechtsfragen (z. B. Ehe- oder Strafrecht) im engeren Sinn, sondern beinhaltet der Idee nach die Gesamtheit der aus der Offenbarung zu gewinnenden Normen für das Handeln des Menschen im Verhältnis zu Gott und zu den Mitmenschen. Von daher enthält das islamische Recht auch Kultvorschriften, Normen der Sozialethik, Regeln für Hygiene, Etikette u. a. und stellt somit eine umfassende Lebensordnung dar. Nach traditioneller, heute jedoch nicht mehr von allen Muslimen geteilter Überzeugung ist die Verwirklichung des islamischen Rechts ein zentraler, unverzichtbarer Bestandteil der islamischen Religion. Die islamische Jurisprudenz teilt die menschlichen Verhaltensweisen nicht nur in »erlaubt« (arabisch halal) und »verboten« (arabisch haram) ein, sondern darüber hinaus in die folgenden fünf Kategorien, in denen rechtliche und ethische Bewertung miteinander verbunden sind: »obligatorisch«, »empfohlen« (d. h. Gott besonders gefällig, aber nicht obligatorisch), »erlaubt« (rechtlich zulässig), »zu missbilligen« (d. h. Gott nicht gefällig, doch rechtlich noch zulässig und gültig) und »verboten«. Die Bestimmungen des islamischen Rechts wurden im frühen Mittelalter von den islamischen Rechtsgelehrten ausformuliert, wobei unter den Sunniten die Lehrmeinungen von vier verschiedenen Rechtsschulen (Madhhab) eine bis heute anerkannte Geltung erlangten; diese Schulen sind die der Hanefiten, Malikiten, Schafiiten und Hanbaliten. Die heute hauptsächlich in Iran verbreiteten Zwölferschiiten (Imamiten) folgen einer eigenen Rechtsschule, die sich an Djafar as-Sadik anlehnt. Alle diese Schulen stimmen im größten Teil der Rechtsvorschriften überein und akzeptieren für deren Herleitung die folgenden vier »Grundlagen der Rechtskenntnis« (arabisch usul al-fikh): den Koran, dessen Text zu rd. einem Siebtel aus Rechtsvorschriften (v. a. des Familien- und Erbrechts sowie einigen des Strafrechts) besteht; das in den kanonischen Sammlungen niedergelegte Hadith, d. h. die Traditionen über die als Sunna bezeichneten Worte und vorbildhaften Taten Mohammeds; den Analogieschluss (arabisch kijas) zu den in Koran und Hadith enthaltenen Normen; den Konsensus (Idjma) der Glaubensgemeinschaft oder speziell der Gelehrten.
Das traditionelle islamische Strafrecht unterscheidet drei Kategorien von Straftaten: 1) die in Koran oder Sunna bestimmten, als Recht Gottes geltenden drakonischen Hadd-Strafen für bestimmte Kapitalverbrechen (arabisch hadd »Grenze«); 2) Strafen für Tötungs- und Körperverletzungsdelikte, bei denen in der Regel das Prinzip der Wiedervergeltung angewendet wird, nach dem der Schuldige derselben Verletzung ausgesetzt werden soll wie sein Opfer; 3) Züchtigungs- oder Ermahnungsstrafen für alle nicht durch die Scharia geregelten Delikte (z. B. Eigentums- und Betrugsdelikte), die nach dem freien Ermessen des Rechtsprechenden festgelegt werden. - Das Familienrecht (Eheschließung, Scheidung, Vormundschaft für die Kinder) ist streng zugunsten des Mannes geregelt. Im Wesentlichen unter dessen Vormundschaft gestellt, obliegt der Frau die Pflicht des Gehorsams. - Das Erbrecht bevorrechtigt nach sunnitischer Tradition die männliche Verwandtschaft des Verstorbenen, wohingegen es bei den Schiiten für die weiblichen Verwandten günstiger geregelt ist. - Das Recht auf Geschäftsfähigkeit erhalten männliche und weibliche Personen, wenn sie urteilsfähig (arabisch rashid) geworden sind, in der Regel, wenn die Pubertät erreicht ist. - Die gesamte Rechtsprechung liegt im traditionellen Recht in der Hand eines Einzelnen, dem islamischen Recht verpflichteten Kadi, der jedoch in schwierigen Rechtsfragen von einem Rechtsberater, dem Mufti, ein Gutachten (Fetwa) einholen kann. Es gibt keine Berufungsinstanzen, und obgleich rechtliche Vertretung bekannt ist, tragen Kläger und Beklagter ihre Sache dem Kadi meist persönlich vor. Bei bestimmten Vergehen sind Zeugen erforderlich.
Um 900 setzte sich im sunnitischen Islam die Mehrheitsmeinung durch, dass nunmehr die rechtlichen Regelungen für alle wichtigen Fragen von den führenden Autoritäten der Rechtsschulen gefunden und formuliert seien und fortan dem einzelnen Gelehrten das Bemühen um eigenständige Normenfindung mittels der Vernunft (Idjtihad) anhand der genannten Grundlagen nicht mehr erlaubt sei. Damit verfiel das islamische Recht der Erstarrung. Die Forderung nach einer Reform des islamischen Rechts (»Wiedereröffnung des Tores des Idjtihad«) wurde von einzelnen Muslimen seit dem späten 19. Jahrhundert erhoben, als sich unter dem Einfluss des modernen Europa die Sozialverhältnisse und zum Teil auch das Rechtsbewusstsein zu wandeln begonnen hatten. Die Reformbestrebungen waren v. a. darauf gerichtet, die Schariavorschriften in den Bereichen des Familienrechts, des Strafrechts, des Vermögensrechts und des Vertragsrechts den nunmehr aufgekommenen Vorstellungen von den Erfordernissen eines zeitgemäßen Gesellschafts- und Wirtschaftslebens anzupassen. Dabei versuchte man z. B. die im Koran explizit erlaubte Polygamie des Mannes mit bis zu vier Frauen zu verbieten oder einzuschränken, das vom islamischen Recht traditionell einseitig dem Ehemann eingeräumte Verstoßungsrecht zugunsten einer Stärkung der Stellung der Frau abzumildern, die Voraussetzungen für die Anwendung der drastischen Strafen für bestimmte im Koran genannte Delikte (Handabhacken für Diebstahl, Steinigung für Ehebruch u. a.) restriktiv zu definieren und ungeachtet des koranischen Wucherverbots, das im islamischen Recht als Zinsverbot verstanden wurde, den Abschluss von mit Zinsgewinnen verbundenen Lebensversicherungsverträgen zu ermöglichen. Die Ergebnisse solcher Reformbemühungen wurden nicht muslimisches Gemeingut, gingen aber in einzelnen Staaten punktuell in das geltende Recht ein (so etwa das Polygamieverbot in Tunesien 1956).
Das islamische Recht war bis ins 19. Jahrhundert nirgends kodifiziert. Der Rechtsprechung lag nur die Lehrtradition der Rechtsschulen zugrunde, die in den von führenden Autoritäten verfassten Kompendien und Fetwas greifbar war. Die erste Teilkodifizierung war die 1877 im Osmanischen Reich in Kraft gesetzte »Medjelle«, die nach der hanefitischen Schule das Vertrags- und Obligationenrecht sowie das Verfahrensrecht fixierte. Seit dem Zweiten Weltkrieg kam es auf dem Gebiet des Personenstands- und Familienrechts in einer Reihe von Staaten (z. B. Tunesien 1956, Marokko 1958, Irak 1959, Süd-Jemen 1974) zu Kodifizierungen. Libyen kodifizierte 1972-74 das islamische Strafrecht.
Bis ins 19. Jahrhundert stand das islamische Recht in der gesamten islamischen Welt in Geltung, und zwar nach der bis dahin herrschenden Staatstheorie als das für alle einzig verbindliches, wenngleich es in der Realität durch örtliches Gewohnheitsrecht und durch herrscherliche Erlasse mit Gesetzeskraft ergänzt und zum Teil überlagert wurde. Im Zuge des Säkularisierungsprozesses wurden seit Mitte des 19. Jahrhunderts in fast allen Staaten der islamischen Welt allmählich weite Bereiche der Rechtspflege der Normierung durch die Scharia entzogen und durch Codices nach modernen europäischen Vorbildern geregelt. Infolge dieser Entwicklung gilt das islamische Recht heute in der Mehrzahl der Staaten der islamischen Welt nur noch auf dem Gebiet des Familien- und Erbrechts, in der Türkei ist es seit 1926 sogar gänzlich abgeschafft. In Saudi-Arabien und Oman gilt das islamische Recht uneingeschränkt. Außerdem gehört die Wiedereinführung der Scharia zu den Hauptforderungen des islamischen Fundamentalismus. So kehrte Iran nach der islamischen Revolution von 1979 in der Praxis zur Anwendung des islamischen Strafrechts und zum Teil auch des islamischen Familienrechts zurück, in Pakistan verkündete Zia ul-Haq im gleichen Jahr die Wiedereinführung des islamischen Rechts, in Sudan wurde es 1983 unter Numeiri eingeführt, aber inzwischen erneut abgeschafft. Dass in Ägypten 1980 durch eine Verfassungsänderung die Scharia zur Hauptquelle der Gesetzgebung erklärt und in dieser Rolle 1985 durch ein Gerichtsurteil nochmals bestätigt wurde, hatte bisher kaum Folgen in Richtung einer Reislamisierung säkularer Gesetze. Dennoch arbeiten dort und in zahlreichen anderen Staaten der islamischen Welt gegenwärtig Kräfte auf eine umfassende Wiedereinführung der Scharia hin.
O. Spies u. E. Pritsch: Klass. i. R., in: Hb. der Orientalistik, hg. v. B. Spuler, Abt. 1, Erg.-Bd. 3 (Leiden 1964);
A. N. Anderson: Law reform in the Muslim world (London 1976);
S. E. Rayner: The theory of contracts in Islamic law (London 1991);
Universal-Lexikon. 2012.