Sịmmel,
1) Georg, Soziologe und Philosoph, * Berlin 1. 3. 1858, ✝ Straßburg 26. 9. 1918; war um die Jahrhundertwende einer der einflussreichsten Intellektuellen, der auch über den universitären Bereich hinaus Anerkennung fand. Eine akademische Karriere im engeren Sinn blieb ihm jedoch weitgehend versagt. Gründe dafür waren v. a. der in dieser Zeit vorherrschende Antisemitismus sowie die noch ungefestigte Stellung der Soziologie. Nach Simmels Habilitation 1885 erfolgte die Ernennung zum Professor erst 1901, die Berufung auf eine Professur (in Straßburg) erst 1914. Durch seine Wirkung auf so unterschiedliche Denker wie E. Bloch, G. Lukács, T. W. Adorno, S. Kracauer, K. Mannheim, M. Scheler, R. Bendix und A. Schütz bestimmte Simmel nachhaltig die sozial- und kulturwissenschaftliche Diskussion, v. a. auch in den USA.
Simmels Arbeiten umfassen die Gebiete der Kulturphilosophie und -geschichte, der Kunstbetrachtung und der Anthropologie. Sie beschäftigen sich mit herausragenden Künstlerpersönlichkeiten (Michelangelo, Rembrandt, Goethe, A. Rodin) ebenso wie mit Fragen des zeitgenössischen Geschmacks (»Die Mode«), der Kulturkritik (»Der Begriff und die Tragödie der Kultur«), politisch-sozialen Themen, z. B. der Frauenbewegung, und den Erscheinungen der Alltagskultur (»Soziologie der Mahlzeit«, »Der Henkel«). Neben diesen verschiedene Disziplinen umgreifenden Untersuchungen (vornehmlich Essays), gibt es eine Fülle fachspezifischer Abhandlungen auf dem Gebiet der Philosophie (v. a. über I. Kant) und in der Soziologie. Simmel gehört zu den Begründern der Soziologie als eigenständiger Wissenschaft, indem er ihr die Beschäftigung mit den allen geschichtlichen Wandlungen zugrunde liegenden Formen und Funktionen der Vergesellschaftung als Arbeitsgebiet zuwies. Die weit reichende Wirkung des Denkens von Simmel, der zunächst unter dem Einfluss C. Darwins, F. Nietzsches und K. Marx' stand, sich dann aber auch Vorstellungen des Neukantianismus und der Lebensphilosophie aneignete, ist v. a. darin begründet, dass er die soziologische Erkenntnis und Theoriebildung mit der konkreten Analyse historischer und alltäglicher Erscheinungen verband und sowohl Gesellschaften im Ganzen als auch die verschiedensten Aspekte der Kultur jeweils als Objektivierungen antagonistischer, dualer Bewegungen und Kräfte (Geist-Materie, Form-Kraft, Prozess-Struktur) auffasste. Dies ermöglichte ihm einerseits eine formale Beschreibung der Gesellschaft anhand grundlegender Kategorien: Individuum und Gruppe, Über- und Unterordnung, Streit und Vertrag, Geheimnis und Öffentlichkeit, Güterbesitz und Armut, Selbsterhaltung sowie räumliche Anordnung von Menschen und Gruppen; andererseits konnte er somit vorhandene inhaltliche Qualitäten und die ihnen entsprechenden Formen aus einem andauernden Wechselprozess von Verfestigung und Verflüssigung beschreiben und die gesellschaftliche Dynamik und Institutionenbildung der modernen Gesellschaft, als deren Zentrum Simmel die Großstadt begriff, erfassen. Die Wechselbeziehung zwischen dynamischen und statischen Elementen, wodurch ein Spannungsverhältnis zwischen Inhalten und Formen entsteht, das im neuzeitlich-abendländischen Denken sowohl die Aspekte der Verdinglichung und Entfremdung als auch den Aspekt der Verselbstständigung und der Freisetzung von Naturabhängigkeit umfasst, steht auch in seiner umfangreichen »Philosophie des Geldes« (1900) im Zentrum.
Weitere Werke: Philosophie der Mode (1905); Kant und Goethe (1906); Schopenhauer und Nietzsche (1907); Soziologie. Unterss. über die Formen der Vergesellschaftung (1908); Philosophische Kultur (1911); Rembrandt (1916); Grundfragen der Soziologie (1917); Der Konflikt der modernen Kultur (1918).
Ausgaben: Das Individuum und die Freiheit. Essais (1984); Gesamtausgabe, herausgegeben von O. Rammstedt, auf zahlreiche Bände berechnet (1989 folgende).
H. J. Helle: Soziologie u. Erkenntnistheorie bei G. S. (1988);
W. Jung: G. S. zur Einf. (1990);
D. Frisby: S. and since (London 1992);
G. S. u. die Moderne. Neue Interpretationen u. Materialien, hg. v. H.-J. Dahme u. a. (21995);
K. C. Köhnke: Der junge S. in Theoriebeziehungen u. sozialen Bewegungen (1996);
K. Lichtblau: G. S. (1997).
2) Johannes Mario, österreichischer Schriftsteller, * Wien 7. 4. 1924; war nach 1945 zunächst Dolmetscher, Drehbuchautor und Journalist in Wien; seit 1963 freier Schriftsteller; lebt in der Schweiz. Simmel begann im Umkreis der »Gruppe 47« zu schreiben (Novellen »Begegnung im Nebel«, 1947; Roman »Mich wundert, daß ich so fröhlich bin«, 1949). Erste Beachtung fand aber erst sein Stück »Der Schulfreund« (1958, Uraufführung 1959); der Aufstieg zum international erfolgreichsten deutschsprachigen Autor begann mit »Es muß nicht immer Kaviar sein« (1960). In diesem und in den folgenden Romanen greift er konfliktträchtige, publikumswirksame Themen auf (u. a. Geheimdienstaffären, Umweltzerstörung, Gentechnologie), die er effektvoll, zuweilen melodramatisch verarbeitet. Viele seiner Romane wurden verfilmt.
Weitere Werke: Romane: Bis zur bitteren Neige (1962); Lieb Vaterland, magst ruhig sein (1965); Alle Menschen werden Brüder (1967); Und Jimmy ging zum Regenbogen (1970); Der Stoff, aus dem die Träume sind (1971); Die Antwort kennt nur der Wind (1973); Niemand ist eine Insel (1975); Hurra, wir leben noch (1978); Wir heißen euch hoffen (1980); Bitte, laßt die Blumen leben (1983); Die im Dunkeln sieht man nicht (1985); Doch mit den Clowns kamen die Tränen (1987); Im Frühling singt zum letztenmal die Lerche (1990); Auch wenn ich lache, muß ich weinen (1993); Träum den unmöglichen Traum (1996).
Universal-Lexikon. 2012.