Ent|frẹm|dung 〈f. 20; unz.〉
1. das Entfremden
2. das Entfremdetsein
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Ent|frẹm|dung, die; -, -en:
das Entfremden, Entfremdetsein:
zwischen uns ist eine E. eingetreten.
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Entfremdung,
1) allgemein: die Tätigkeit des Verfremdens oder der Prozess des Fremdwerdens (auch Selbstentfremdung) sowie das Ergebnis dieses Prozesses (der Zustand der Trennung, der Ferne).
2) Philosophie und Sozialwissenschaften: Entfremdung bezeichnet zunächst im transzendentalphilosophischen Sinne bei J. G. Fichte den notwendigen Prozess, der das Ich nur auf dem Wege einer Entäußerung in ein Nicht-Ich zur Erfassung seiner selbst gelangen lässt, bei G. W. F. Hegel, der den Begriff Entfremdung explizit als philosophischer Terminus eingeführt hat (»Phänomenologie des Geistes«, 1807), die notwendige Durchgangsstufe auf dem dialektischen Weg des Geistes zu sich selbst.
Durch K. Marx (»Ökonomisch-philosophische Manuskripte«, 1844) wurde der Begriff Entfremdung zur Kennzeichnung der »Vergegenständlichung«, die den Menschen als Produzenten dem Produkt seiner Arbeit entfremdet, in den historischen Zusammenhang kapitalistischer Produktionsverhältnisse gestellt (die Arbeitskraft wird zur Ware). Im Kapitalismus ist der Arbeiter nach Marx durch das Privateigentum von den Produktionsmitteln ausgeschlossen; er wird deshalb in dem Maße als Mensch »entwirklicht«, wie er Werte schafft, die aufgrund fremder Aneignung zu Gegenständen werden, die ihm »fremd« sind. Durch die Arbeitsteilung, die ihm zufällig erscheint, wird er gleichzeitig auch anderen Menschen entfremdet, zumal deren Arbeit ebenfalls fremdbestimmt ist. Marx unterschied religiöse Entfremdung (»Religion als Opium des Volkes«), politische Entfremdung (Widerspruch zwischen persönlichen und staatlichen Interessen) und ökonomische Entfremdung, die die Wurzel aller anderen Entfremdungen sei.
In der Zeit nach Marx erfuhr das Entfremdungsproblem in der philosophisch-sozialwissenschaftlichen Diskussion eine starke inhaltliche Ausweitung und Differenzierung. Unter Begriffen wie Verdinglichung, Fremdbestimmung, Entmenschlichung u. a. wurde das Entfremdungsproblem in oftmals kulturkritischer Weise mit negativen Auswirkungen soziokultureller Umwälzungen (Industrialisierung, Rationalisierung, Verstädterung, »Vermassung«, »Kulturverfall«) auf die Individualität des Menschen identifiziert. G. Simmel sah eine wachsende Fremdheit zwischen dem Kultur schaffenden Menschen und seinen Schöpfungen, die sich im Verlauf eines Objektivierungsprozesses eigenmächtig verselbstständigen. M. Weber erkannte die Gefahr, dass der moderne Kapitalismus und die Bürokratisierung (Bürokratie) ein »stahlhartes Gehäuse« technisch-ökonomischen Strukturen hervorbringen, das mit »überwältigendem Zwang« den Lebensstil des Individuums bestimmt.
Vertreter der »kritischen Theorie« und des kulturkritischen Neomarxismus (T. Adorno, H. Marcuse undE. Fromm) befürchteten infolge totalitärer Tendenzen und wachsender Ökonomisierung der Gesellschaft die Entfremdung des Menschen von seinen »wahren Bedürfnissen« zu einem manipulierten, scheinbar zufriedenen, nur am Wohlstand orientierten Bürger. A. Schaff u. a. erkannte, dass auch in staatssozialistischen Gesellschaften infolge totalitär-bürokratischer Herrschaftsverhältnisse Entfremdungserscheinungen bestehen. Nach R. Dahrendorf trägt die Soziologie zur Entfremdung bei, wenn sie den Menschen als Träger sozialer Rollen (»homo sociologicus«) analysiert, die den Einzelnen zu einem entindividualisierten, »zerstückelten« und unfreien »Rollenspieler« entfremden. In den USA wurde versucht, die Kategorie der Entfremdung (englisch alienation) in einen erfahrungswissenschaftlichen Begriff umzuwandeln, der in der Sozialpsychologie und Industriesoziologie forschungspraktisch verwendbar ist (Operationalisierung). Der Soziologe Melvin Seeman (* 1918) unterscheidet fünf psychologische Dimensionen der Entfremdung: 1) Machtlosigkeit, 2) Sinnlosigkeit, 3) Normenlosigkeit, 4) Isoliertheit, 5) Selbstentfremdung.
In der Existenzphilosophie und bei P. Tillich schließlich wird Entfremdung als ontologisch-ethisches Problem aufgefasst: Entfremdung ist hier als ein konstitutives Element der menschlichen Existenz Ausdruck der Entwurzelung des Menschen in der modernen Gesellschaft.
A. Gehlen: Die Geburt der Freiheit aus der E., in: Archiv für Rechts- u. Sozialphilosophie, Jg. 40 (1952/53);
G. Lukács: Gesch. u. Klassenbewußtsein (Neuausg. 1970);
H. Popitz: Der entfremdete Mensch (31973);
E., hg. v. H.-H. Schrey (1975);
A. Schaff: E. als soziales Phänomen (a. d. Poln., 1977);
J. Israel: Der Begriff E. (1985);
H. May: Arbeitsteilung als Entfremdungssituation in der Industriegesellschaft von Emile Durkheim bis heute (1985);
Friedrich Müller: E. (21985);
H. Schuller: Die Logik der E. Versuch zu einer wiss. Grundlegung der E.-Theorie (1991);
H. Nicolaus: Hegels Theorie der E. (1995).
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Ent|frẹm|dung, die; -, -en: 1. das Entfremden, Entfremdetsein: zwischen uns ist eine E. eingetreten; Im Verlaufe der Auseinandersetzungen haben sich indessen -en zwischen dem Chefdirigenten und dem Intendanten ... gezeigt (NZZ 3. 2. 83, 35). 2. (Philos., bes. marx.) historisch-gesellschaftliche Gesamtsituation, in der die Beziehungen zwischen Menschen als Beziehungen zwischen Sachen, Dingen erscheinen u. in der die von den Menschen hervorgebrachten Produkte den Menschen als fremde, sie beherrschende Mächte gegenübertreten: die Merkmale der kapitalistischen Wirtschaft: E. zwischen Person und Arbeit (Pilgrim, Mensch 77).
Universal-Lexikon. 2012.