Ent|sta|li|ni|sie|rung, die; -:
das Entstalinisieren; das Entstalinisiertwerden.
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I Entstalinisierung
Nach Stalins Tod 1953 setzte unter dem Druck der bisher künstlich niedergehaltenen gesellschaftlichen Spannungen ein »Tauwetter« (Ilja Ehrenburg) ein. Aufbruchstimmung machte sich breit. Reformen gerade auch zur Lösung der erheblichen sozialökonomischen Probleme wurden öffentlich diskutiert. Heftige innerparteiliche Kontroversen begleiteten die Debatte. In ihnen behauptete sich Nikita Chruschtschow (1894-1971), der seit 1953 an der Spitze der Partei stand. Mit seinem Namen ist die »Entstalinisierung« verknüpft, die er 1956 auf dem XX. Parteitag einleitete. Mehr und mehr Verbrechen des stalinistischen Terrors kamen ans Tageslicht. Viele der unschuldigen Opfer wurden rehabilitiert, die Straflager begannen sich zu leeren.
Doch eine vollständige Umkehr gelang nicht. Eine Reihe Tabus blieb bestehen; bei der Suche nach den Ursachen des Stalinismus stieß man keineswegs bis zu den Wurzeln vor. Stalin und einige seiner engsten Mitarbeiter sowie der »Personenkult« wurden für alle Unterdrückungsmaßnahmen und Missstände verantwortlich gemacht. Der Schock war für Partei und Öffentlichkeit zu groß, als dass man tiefer nach den strukturellen Gründen gefragt hätte. Die mangelnden Kontrollmechanismen der Partei sowie die Art der Industrialisierung und Kollektivierung zum Kern der Kritik zu machen hätte bedeutet, an den Grundlagen der Ordnung zu rütteln. Für viele war es ohnehin schwer zu glauben, dass all das Leid, die Opfer und Entbehrungen vielleicht umsonst gewesen seien. Darüber hinaus war die neue Partei- und Staatsführung ebenso wie der gesamte Apparat noch vom stalinistischen System geprägt.
Das wirkte sich auch auf die Reformen aus, die in Angriff genommen wurden. Die Landwirtschaft sollte umstrukturiert werden. In der Industrie suchte man nach einer besseren Verbindung von zentralistischen und dezentralen Elementen sowie nach einer Verfeinerung der Planung. Die Konsumgüterproduktion sollte gesteigert werden. Parallel dazu begannen Veränderungen in der Parteistruktur, die eine höhere Qualifikation der Funktionäre und mehr innerparteiliche Demokratie zum Ziel hatten. Die Masse der Funktionäre fühlte sich allerdings durch die vielen Neuerungen verunsichert und boykottierte sie weitgehend. Die im Stalinismus eingeübten Praktiken und Verhaltensweisen wirkten fort. So wartete man vielfach immer noch auf Instruktionen übergeordneter Stellen, statt selbstständig zu entscheiden. Zugleich wurde die Realität verschleiert, um z. B. im wirtschaftlichen Bereich die Erfüllung der Planvorgaben melden und die entsprechenden Prämien einstreichen zu können.
Als die zahlreichen, oft wenig durchdachten Experimente schließlich nicht zu den erhofften wirtschaftlichen Erfolgen führten und zudem der offensive außenpolitische Kurs Chruschtschows in der Kubakrise 1962 eine Niederlage erlitt und zudem durch den Konflikt mit der Volksrepublik China neue Spannungen entstanden, war seine Absetzung 1964 durchaus folgerichtig. Die neue Führung um den Parteichef Leonid Breschnew (1906-1982) und den Ministerratsvorsitzenden Alexej Kossygin (1904-1980) machte radikale Änderungen der Parteistruktur wieder rückgängig. Im Herbst 1965 beschloss sie jedoch eine umfassende Wirtschaftsreform, die allerdings bald stecken blieb. Die »Entstalinisierung« des Systems konnte nicht abgeschlossen werden.
II
Entstalinisierung,
Schlagwort für die Abkehr von den Herrschaftsmethoden Stalins und einigen seiner ideologischen Maximen (Stalinismus) in der Sowjetunion und (nachfolgend) in anderen kommunistischen Staaten. Nachdem bereits nach Stalins Tod (5. 3. 1953 eine »stille Entstalinisierung« stattgefunden hatte (u. a. Amnestierung politischer Häftlinge, Entmachtung des langjährigen Geheimdienstchefs L. P. Berija, Wiederbelebung des Prinzips der kollektiven Führung, »Tauwetter« in der Kulturpolitik), griff N. S. Chruschtschow, seit 1953 Erster Sekretär des ZK der KPdSU, auf dem XX. Parteitag (14.-25. 2. 1956) der KPdSU in einem Geheimreferat die terroristische Herrschaftsweise Stalins sowie die Umwandlung der Partei zum persönlichen Herrschaftsinstrument als Verstoß gegen die Führungsgrundsätze des Marxismus-Leninismus an und forderte innenpolitisch die Beachtung der kollektiven Führung und der »sozialistischen Gesetzlichkeit«. Entgegen den Vorstellungen Stalins bekannte sich der Parteitag zum Konzept eines »unterschiedlichen Weges zum Sozialismus« in den verschiedenen Ländern der Erde sowie zur Möglichkeit einer »friedlichen sozialistischen Umgestaltung« eines Landes. Mit der These von der »Vermeidbarkeit von Kriegen« legte er die Grundlagen für das außenpolitische Leitprinzip der friedlichen Koexistenz. Unter der parteioffiziellen Formel »Abbau des Persönlichkeitskultes« vertiefte der XXII. Parteitag (17.-31. 10. 1961) die Kritik an der persönlichen Diktatur Stalins.
Unter dem Schlagwort eines Kampfes gegen den Dogmatismus diente die Entstalinisierung zugleich zur Kaltstellung innenpolitischer Kritiker Chruschtschows und seines Kurses (Sowjetunion, Geschichte). Die Entstalinisierung fand ihren sichtbaren Ausdruck u. a. in der Rehabilitierung von Opfern des stalinistischen Terrors, in der Beseitigung von äußeren Zeichen des Personenkults um Stalin (Abriss von Denkmälern, Umbenennung von Städten [z. B. Stalingrad in Wolgograd] und Entfernung seines Leichnams aus dem Leninmausoleum). Die Entstalinisierung griff mit unterschiedlicher Intensität auch auf andere Staaten des Ostblocks über. In Polen und Ungarn führte sie zu schweren innenpolitischen Krisen bei gleichzeitiger Belastung der Beziehungen zur UdSSR. Mit der Entstalinisierung begann in der kommunistischen Weltbewegung die Diskussion um einen »Polyzentrismus« wie auch der Konflikt zwischen der sowjetischen und chinesischen KP-Führung. - Nach dem Sturz Chruschtschows (1964) wurde die Entstalinisierung unter L. I. Breschnew abgebrochen (teilweise Rehabilitierung Stalins; so genannter Neostalinismus). Erst nach dem Machtantritt M. S. Gorbatschows (1985) begann eine zweite Etappe der Entstalinisierung (Einleitung einer umfassenden Rehabilitierung stalinistischer Opfer, kritischer Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Folgen des Stalinismus, politische Reformen). - Durch die gesellschaftliche Umwälzung in Mittel- und Osteuropa (1989-91/92) wurden dort die vorhandenen stalinistischen Strukturen abgebaut (u. a. Abschaffung des Machtmonopols der KP, Auflösung der kommunistischen Geheimdienste) und eine Demokratisierung sowie der Übergang zur Marktwirtschaft eingeleitet, ein Prozess, der nach dem Zerfall des Vielvölkerstaates UdSSR auch in Russland und den anderen selbstständig gewordenen Republiken der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten allmählich einsetzte, wo er sich mit schweren innergesellschaftlichen Auseinandersetzungen und Nationalitätenkonflikten verband.
Literatur: Sowjetunion.
Hier finden Sie in Überblicksartikeln weiterführende Informationen:
Sowjetunion: Die UdSSR und der Ostblock
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Ent|sta|li|ni|sie|rung, die; -: das Entstalinisieren, Entstalinisiertwerden: (Chruschtschow) ... leitete zugleich durch seine „Entstalinisierung“ ... und durch den Abbau der Zwangsarbeitslager eine Politik der Reform ein (Fraenkel, Staat 53).
Universal-Lexikon. 2012.