Rabelais
[ra'blɛ], François, französischer Schriftsteller, * La Devinière (bei Chinon) um 1494, ✝ Paris 9. 4. 1553; erhielt eine theologische Ausbildung, trat 1511 in den Franziskanerorden ein, geriet aber wegen seiner Studien antiker (v. a. griechischer) Texte in Konflikt mit den Ordensregeln und gehörte ab 1524 dem Orden der Benediktiner an. 1527 wurde er Weltgeistlicher, studierte ab 1530 Medizin und Naturwissenschaften in Montpellier und wirkte ab 1532 als Arzt in Lyon. Hier veröffentlichte er u. a. eigene medizinische Schriften sowie Übersetzungen einiger Werke des Hippokrates und Galen. Als Leibarzt und Sekretär des Kardinals Jean Du Bellay (* 1494, ✝ 1560) unternahm er mehrere Reisen nach Italien und entzog sich nach der Verurteilung seines »Tiers livre« durch die kirchliche Zensur 1546 einer Verfolgung durch die Flucht nach Metz. 1551 übertrug ihm Kardinal Du Bellay als Pfründe die Pfarreien von Saint-Christophe du Jambet und Meudon bei Paris.
Der schriftstellerische Ruhm von Rabelais beruht auf seinem um die Figuren der Riesen Gargantua und Pantagruel und ihre Gefährten angelegten Roman, der von unbändiger Fabulierkunst und Fantastik sprüht und in dem humanistisches Gedankengut, Parodie, Satire und Zeitkritik eine enge Verbindung eingehen (»Les horribles et espouventables faictz et prouesses du très renommé Pantagruel. ..«, 1532, deutsch »Die schrecklichen Heldentaten des berühmten Pantagruel. ..«; »La vie inestimable du grand Gargantua, pere de Pantagruel. ..«, 1534, deutsch »Das höchst schreckliche Leben des großen Gargantua, des Vaters von Pantagruel«; »Tiers livre«, 1546, deutsch »Drittes Buch. ..«; »Le quart livre de Pantagruel«, 1548, vollständige Ausgabe 1552, deutsch »Das vierte Buch«; die Authentizität von »Le cinquiesme et dernier livre. ..«, herausgegeben 1564; deutsch »Das fünfte und letzte Buch«, erstmals herausgegeben 1562 unter dem Titel »L'isle sonante«, ist umstritten).
Das Handlungsschema des Werks, das unmittelbar durch ein 1532 in Lyon erschienenes Volksbuch angeregt wurde (Schilderung der Jugend der Protagonisten, ihre Erziehung und Studien sowie die Waffentaten der herangewachsenen Helden), verweist auf die mittelalterliche Heldendichtung und den altfranzösischen Ritterroman sowie deren Parodien. Stofflich basiert es ferner u. a. auf der Bibel, der klassisch-antiken Literatur, antiken Geheimlehren, mittelalterlichen Farcen, Fabliaux und Mysterienspielen, den italienischen Renaissance-Epen, zeitgenössischer Reiseliteratur und den Werken humanistischer Autoren (z. B. Erasmus von Rotterdam).
Die erzählerische Originalität beruht auf einer maßlosen, karnevalesken Übertreibung der Wirklichkeit bis hin zu ihrer Deformierung, wobei sich Reales und Irreales, Subtiles und derb Sinnliches bis zum Obszönen, (un)mittelbarer Zeitbezug und groteske wie utopische Elemente verbinden. Damit korrespondiert eine alle Stilebenen (von der klassisch-gelehrten Kunstprosa bis zur sinnlichen Kraft volkstümlicher und vulgärer Wendungen) virtuos beherrschende Sprache, die mit ihren Neologismen und Wortspielen, fantastischen Sprachmischungen und eruptiven Wortkaskaden zum Mittel komischer Verfremdung und Instrument satirischer Kritik wird und dem Französischen nachhaltig neue Möglichkeiten erschloss.
Inhaltlich präsentiert sich der Roman als komplexes Gebilde vieldeutig aufeinander bezogener und einander häufig relativierender Sinnebenen. Seine Grundhaltung ist von renaissancehafter Daseins- und Sinnenfreude geprägt, von humanistischem Geist und entschiedener Abkehr von dogmatischem Denken in allen seinen Formen. Hieraus erwächst auch seine umfassende Zeitsatire: gegen das zeitgenössische Wissenschafts- und Bildungsverständnis, die scholastische Theologie (und die theologische Fakultät an der Sorbonne), blinden Aberglauben, die Weltfeindlichkeit der Mönchsorden, geistige Intoleranz, konfessionelle Erstarrung und religiösen Fanatismus bei Katholiken und Reformern sowie generell gegen alles Unnatürliche im menschlichen Leben. Dem steht der Glaube an die Möglichkeiten humanistischer Wissenschaft und eine universalistische, weltoffene, geistige und körperliche Erziehung umfassende, praxisbezogene Bildung gegenüber, die den Menschen zu ethischer Vollkommenheit, Toleranz, individueller Gewissensentscheidung und Gestaltung der Lebenswirklichkeit aus innerer Freiheit befähigt. Mit der »Abbaye de Thélème« gestaltet Rabelais (in »Gargantua«) das als »Antikloster« konzipierte Bild einer idealen menschlichen Gemeinschaft in humanistischem Geist und auf der Basis der Willensfreiheit (nach der Devise »Fais ce que voudras«, »Tu, was du willst«) als positive Utopie.
Die schon im 16. Jahrhundert (J. Fischart u. a.) einsetzende Nachwirkung Rabelais' blieb in der französischen Klassik nur vereinzelt spürbar (J. de La Fontaine, Molière); er wurde v. a. seit dem 19. Jahrhundert (H. de Balzac, »Contes drôlatiques«, V. Hugo, A. Jarry) in seiner geistigen und künstlerischen Originalität erkannt, deren Einfluss bis ins 20. Jahrhundert reicht (Arno Schmidt u. a.).
Ausgaben: Œuvres complètes, herausgegeben von J. Plattard, 5 Bände (1-61946-66); Œuvres complètes, herausgegeben von P. Jourda, 2 Bände (21970); Œuvres complètes, herausgegeben von L. Scheler (Neuausgabe 1985).
Des F. Rabelais weiland Arznei-Doktors und Pfarrers zu Meudon Gargantua und Pantagruel, übersetzt von E. Hegaur u. a. (51974); Gargantua und Pantagruel, übersetzt von W. Widmer und anderen, 2 Bände (1978).
L. Sainéan: La langue de R., 2 Bde. (Paris 1922-23, Nachdr. Genf 1976);
J. Plattard: F. R. (Paris 1932, Nachdr. Genf 1972);
J. Plattard: R., l'homme et l'œuvre (Paris 1957);
V. L. Saulnier: Le dessein de R. (ebd. 1957);
V. L. Saulnier: R., 2 Bde. (ebd. 1982-83);
M. A. Screech: L'évangelisme de R. (Genf 1959);
R., hg. v. A. Buck (1973);
F.-R. Hausmann: F. R. (1979);
M. Lazard: R. et la renaissance (Paris 1979);
G. Demerson: R. (ebd. 1986);
M. D. Cusset: Mythe et l'histoire. Le pouvoir et la transgression dans l'œuvre de R. (1992);
Hier finden Sie in Überblicksartikeln weiterführende Informationen:
Rabelais: Satire und humanistisches Ethos
Universal-Lexikon. 2012.