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jiddische Sprache
jịddische Sprache,
 
Sprache der nicht assimilierten aschkenasischen Juden, früher auch als »Jüdisch-« oder »Hebräisch-Deutsch« und im Jiddischen selbst oft als »Mame-loschn« (Muttersprache) bezeichnet; auch mit den Bezeichnungen »Jargon«, »Mauscheln« oder »Kauderwelsch« in jüdischem Kontext ist meist die jiddische Sprache gemeint. Trotz der Vernichtung eines großen Teils (etwa 5 Mio. Sprecher) der jiddischen Sprachgemeinschaft im Holocaust blieb Jiddisch bis heute die am weitesten verbreitete jüdische Sprache mit schätzungsweise noch 5-6 Mio. Sprechern (v. a. in Nordamerika und Israel, aber auch Ost- und Westeuropa), denen Jiddisch zumindest als Zweitsprache geläufig ist.
 
 Eigenart und Funktionen
 
Die strukturelle Eigenart der jiddischen Sprache entstand durch Fusion und inneren Wandel von vier Komponenten: Die romanische zeigt sich nur noch schwach, aber signifikant im Wortschatz (z. B. bentschn »segnen«, leien/leienen »lesen«, über Zwischenstufen auf lateinisch benedicere beziehungsweise legere zurückzuführen); demgegenüber hat die hebräisch-aramäische auch Grammatik (z. B. Pluralbildung; periphrastische Verben) und Satzbau, die slawische (v. a. polnische, weißrussische, ukrainische) außerdem die lautliche Seite (Lautinventar, Intonation, Satzakzent) und die Wortbildung (z. B. Diminutive, zahlreiche Suffixe) nachhaltig beeinflusst. Die dominante deutsche Komponente wurde durch externen Zuwachs und durch interne Innovation verändert (z. B. Reduktion von Flexionsmerkmalen in Deklination und Konjugation, an deren Stelle neue, mehrgliedrige Umschreibungen, besonders auch für verschiedene verbale Aktionsarten und Aspekte, traten; Schaffung neuer und unterschiedlich produktive Verwendung übernommener Wortbildungsmuster; Lehnbildungen). Eine Fülle von Synonymen ermöglicht semantische und stilistische Variation und Registerwechsel, die zusammen mit der reichen Idiomatik und flexiblen Syntax eine höchst geschmeidige und komponentenbewusst steuerbare Ausdrucksweise erlauben. Die gesprochene jiddische Sprache gliedert sich heute in drei Hauptdialekte: der zentrale Dialekt ist in Polen, der nordöstliche in Litauen, der südöstlich in der Ukraine und in Rumänien beheimatet. Hingegen existiert für die schriftliche Kommunikation durch das hebräische Alphabet weitgehende Einheitlichkeit.
 
Seine Ausformung zur Literatursprache (jiddische Literatur) erfuhr das Jiddische im Zusammenhang mit den nationalkulturellen Emanzipationsbewegungen in Osteuropa. Seine Rolle als Unterrichtssprache beim traditionellen Studium von Talmud und Auslegungsliteratur, dann aber v. a. auch seine Verwendung durch religiöse wie aufklärerische Erneuerer (im Rahmen von Chassidismus beziehungsweise Haskala) und die entstehende Arbeiterbewegung (jüdisch-sozialistische Massenorganisation »Bund«) sowie die zunehmende Bedeutung des Jiddischen in Presse, Theater und Unterrichtswesen sicherten der jiddischen Sprache gegen Ende des 19. Jahrhunderts allmählich ihre Funktionen als umfassendes Kommunikationsmittel für alle gesellschaftlichen Bereiche.
 
 Geschichte
 
Die Geschichte der jiddischen Sprache begann im 10. Jahrhundert mit der Einwanderung von Juden aus Gebieten mit romanischer Sprache in rheinischen und donauländischen (Regensburg) Regionen. Soweit die bis zum Ende des 14. Jahrhunderts spärliche Überlieferung erkennen lässt, nahm das Altjiddische (bis etwa 1500) an den sprachlichen Veränderungen des mittelalterlichen Deutsch infolge engen Kontakts im Wesentlichen teil, wurde aber aufgrund der höheren Mobilität der jüdischen Bevölkerung stärker von dialektalen Ausgleichstendenzen geprägt und besaß seit frühester Zeit Merkmale und Möglichkeiten einer Komponentensprache. Flucht und Vertreibung im Zusammenhang mit den Kreuzzügen (seit 1096), dann v. a. mit der Ausbreitung der Pest (1347/48) führten bereits im Mittelalter zu einer Verbreitung der jiddischen Sprache über die Grenzen des deutschen Sprachraums nach Süden (Oberitalien) und Osten (Böhmen, Mähren, Polen) hinaus. Das Mitteljiddische (16.-18. Jahrhundert) stand in seinen zahlreichen literarischen Zeugnissen überwiegend dem Deutschen noch sehr nahe, ließ aber allmählich die hebräisch-aramäische Komponente auch in der Schriftlichkeit stärker hervortreten und öffnete sich slawischen Einflüssen, wo ihnen kein unmittelbarer Kontakt zum Deutschen entgegenwirkte. So begann sich ein östlicher von einem westlichen Zweig der jiddischen Sprache zu sondern. Letzterer verkümmerte schließlich unter wachsendem Assimilationsdruck bis auf geringe lokal- und fachsprachliche Reste, sodass das Neujiddische (seit dem 19. Jahrhundert) weitgehend mit dem Ostjiddischen identisch ist. Die Verbreitung des Ostjiddischen nahm mit der 1881 nach schweren Pogromen im Zarenreich einsetzenden Massenauswanderung nach Übersee beträchtlich zu. Allerdings setzte die materielle und kulturelle Entwurzelung viele Sprecher Anpassungszwängen aus, die den Gebrauch der jiddischen Sprache zurückdrängten. Auch die nach der Oktoberrevolution dem Jiddischen zunächst sehr förderliche Kulturpolitik der UdSSR erfuhr gegen Ende der 1930er-Jahre und vollends nach 1949 einschneidende Restriktionen, die später nur zögernd und unvollständig zurückgenommen wurden. Angesichts der weitgehenden Vernichtung der jüdischen Kultur Osteuropas im Zweiten Weltkrieg sind die Voraussetzungen für Fortbestand und -entwicklung der jiddischen Sprache problematisch geworden.
 
Literatur:
 
S. A. Wolf: Jidd. Wb. (1962);
 F. J. Beranek: Westjidd. Sprachatlas (1965);
 J. Bin-Nun: Jiddisch u. die dt. Mundarten (1973);
 W. Weinberg: Die Reste des Jüdischdeutschen (21973);
 S. A. Birnbaum: Die j. S. (1974);
 S. A. Birnbaum: Yiddish. A survey and a grammar (Toronto 1979);
 
Sociology of Yiddish, hg. v. J. A. Fishman (Den Haag 1980);
 M. Weinreich: History of the Yiddish language (a. d. Hebr., Neuausg. Chicago, Ill., 1980);
 E. Timm: Graph. u. phon. Struktur des Westjiddischen (1987);
 B. Simon: Jidd. Sprachgesch. (1988);
 D. M. Bunis u. A. Sunshine: Yiddish linguistics. A classified bilingual index of Yiddish serials and collections, 1913-1958 (New York 1994).

Universal-Lexikon. 2012.