Tsche|t|sche|ni|en, das; -s:
Republik in der Russischen Föderation.
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Tschetschenien,
Tschetschenische Republik Itschkerịa, Republik in Nordkaukasien, 16 000 km2, (2000) 573 900 Einwohner; Hauptstadt ist Grosnyj. Die im zentralen Nordkaukasus gelegene Republik umfasst im Südteil die bewaldete Nordabdachung des Kaukasus östlich des Terek (Tebulosmta 4 493 m über dem Meeresspiegel), die sich zur Tschetschen. Ebene (im Norden von Sunscha- und Terekgebirge begrenzt) absenkt. Nördlich des Terek liegt das von Trockensteppe eingenommene sandige Terek-Kuma-Tiefland. - Von der Bevölkerung waren 1992 75 % Tschetschenen, 20 % Russen, 1 % Armenier, 1 % Ukrainer sowie 3 % Angehörige anderer kaukasischen Völker.
Durch den Krieg um die politische Selbstständigkeit mit einhergehendem Wirtschaftsembargo wurde die Wirtschaft Tschetscheniens stark geschädigt, besonders durch die Zerstörung des Wirtschaftszentrums Grosnyj als Mittelpunkt der Erdölförderung (1992: etwa 3,3 Mio. t) und -verarbeitung (wichtigster Wirtschaftszweig der Republik), des Maschinenbaus und der Metallverarbeitung sowie der Lebensmittel- und Leichtindustrie. Große wirtschaftliche Bedeutung haben der vielfach mittels Bewässerung betriebene Obst- und Weinbau sowie der Getreide-, Gemüse-, Sonnenblumen- und Zuckerrübenanbau, die Schaf- (im Norden), Rinder- und Geflügelhaltung. Tschetschenien ist wichtig als Transitland: Fernstraße und Bahnlinie Aserbaidschan/Dagestan-Russland, Erdölleitung (1 411 km lang) von Baku (Aserbaidschan) zum russischen Schwarzmeerhafen Noworossijsk. Der Fremdenverkehr im Kaukasus und seinem Vorland ist seit dem Bürgerkrieg bedeutungslos.
Aus der 1921 errichteten und mehrere nordkaukasische Völker zusammenfassenden »Autonomen Sozialistischen Sowjetischen Bergrepublik«, die bald wieder in separate ethnische Gebilde zerfiel, gingen 1922 das Tschetschenische und 1924 das Ingusch. Autonome Gebiet hervor. 1934 wurden beide Territorien vereinigt und 1936 zur ASSR erhoben. Gegen die Unterdrückung des Islam (u. a. Schließung der meisten Moscheen) und die stalinistische Kollektivierung der Landwirtschaft richtete sich der erbitterte Widerstand beider Völker, dem die sowjetische Zentralregierung mit dem Einsatz der Roten Armee (Höhepunkt 1929/30) und einer Repressionswelle (1937) begegnete. Daraufhin verstärkte sich (besonders seit Anfang der 40er-Jahre) die Guerillabewegung in diesem Gebiet. 1944 wurden die Tschetschenen und Inguschen wegen angeblicher Zusammenarbeit mit Deutschland unter Einsatz brutaler Mittel (zahlreiche Tote) kollektiv nach Zentralasien deportiert und ihre ASSR aufgelöst. Nach Rehabilitierung beider Völker 1957 wiederhergestellt, blieb die ASSR um verschiedene Territorien reduziert, die nach 1944 anderen Gebietseinheiten (Georgien, Dagestan, Nordossetien, Stawropol) angeschlossen worden waren; sie erwies sich als einer der am wenigsten in das sowjetische System eingebundenen Bestandteile. So hatten auch die Deportationen die Integrationskraft nicht brechen können, die der Islam, besonders seit dem 19. Jahrhundert (Schamil), für die übergroße Mehrheit der Tschetschenen besitzt. Unmittelbar nach der Rückkehr der Tschetschenen entfalteten die den tschetschen. Islam prägenden Sufi-Bruderschaften eine umfassende Wirksamkeit im Untergrund, die von den russisch dominierten Staatsbehörden und vom offiziell zugelassenen Islam (nur wenige Moscheen und Geistliche) kaum unter Kontrolle gebracht werden konnte. Nach 1990 gewann der Islam seine traditionelle Stellung im öffentlichen Leben Tschetscheniens zurück (Wieder- und Neuerrichtung zahlreicher Moscheen; Wahl eines eigenen Großmufti für Tschetschenien) und ist als Ausdruck nationaler tschetschen. Identität in den gegenwärtigen politischen Auseinandersetzungen zu einem wichtigen Faktor geworden.
Politisch instrumentalisiert wurde er u. a. durch den Führer des »Pan-Nationalen Kongresses« der Tschetschenen, General Dschochar Dudajew (* 1944, ✝ 1996), der vor dem Hintergrund der zusammenbrechenden kommunistischen Herrschaftsordnung im September 1991 die Macht in Tschetschenien übernahm, sich im Oktober zum Präsidenten wählen ließ (Amtseid auf den Koran) und einseitig die Unabhängigkeit Tschetscheniens erklärte. In der Folge übernahm Tschetschenien eine führende Rolle in der im November 1991 gegründeten »Konföderation der kaukasischen Bergvölker« und verweigerte im März 1992 seinen Beitritt zum Föderationsvertrag mit Russland.
Aus dem ingusch. Teil der Republik, der sich den Unabhängigkeitsbestrebungen der Tschetschenen nicht anschloss, wurde auf Beschluss des russischen Parlaments 1992 die separate Republik Inguschetien innerhalb der Russischen Föderation gebildet. Gestützt auf eine Nationalgarde, konnte Dudajew im März 1992 den Putsch innenpolitischer Gegner niederschlagen. 1993 erreichten die innertschetschen. Auseinandersetzungen mit der Auflösung des Parlaments durch Dudajew ihren Höhepunkt. Am 11. 12. 1994 entsandte die russische Regierung, die die Unabhängigkeitserklärung Tschetscheniens nicht anerkannt hatte, Truppen nach Tschetschenien, um die »verfassungsgemäße Ordnung« mit Waffengewalt wiederherzustellen. Unterstützt von Luftangriffen auf militärische und zivile Ziele, drangen russische Truppen gegen den entschlossenen Widerstand tschetschen. Einheiten vor und eroberten im Januar 1995 den Präsidentenpalast in der weitgehend zerstörten Hauptstadt Grosnyj. Eine am 30. 7. 1995 vereinbarte Waffenruhe wurde nicht eingehalten (immer häufiger blutige tschetschen. Guerillaaktionen, u. a. Geiselnahme in der russischen Stadt Budjonnowsk im Juni 1995). Zehntausende Flüchtlinge suchten Schutz v. a. in der Nachbarrepublik Dagestan, die 1996 auch zeitweise von den militärischen Auseinandersetzungen erfasst wurde. Am 23. 8. 1996 trat ein zwischen dem russischen Tschetschenien-Beauftragten A. I. Lebed und dem Stabschef der tschetschen. Widerstandskämpfer, Aslan Maschadow (* 1951), ausgehandelter Waffenstillstand in Kraft, der zur Beendigung der blutigen Kämpfe führte (rd. 80 000 Tote); bis Anfang Januar 1997 war der russische Truppenabzug beendet. Die Präsidentschaftswahlen am 27. 1. 1997 gewann Maschadow (Amtsantritt im Februar 1997); am 12. 5. 1997 unterzeichneten er und der russische Präsident B. N. Jelzin einen Friedensvertrag, der aber Festlegungen über den künftigen politischen Status Tschetscheniens ausklammerte (Verhandlungen darüber waren erst für 2001 geplant). Die innenpolitische Lage blieb auch danach instabil (häufige Geiselnahmen, Anschläge aus politischen und religiösen Motiven, steigende Kriminalität, Kämpfe zwischen schwer bewaffneten Clans, Wirken islamischer Extremisten). Präsident Maschadow, unter dem die Islamisierung der Republik voranschritt (im Februar 1999 Einführung der Scharia), sah sich mit einem wachsenden innertschetschen. Widerstand gegen seine Amtsführung konfrontiert.
Das Eindringen muslimischer Rebellen von Tschetschenien nach Dagestan im Sommer 1999 und mehrere blutige, kaukasische Terroristen zugeschriebene Sprengstoffanschläge in russischen Städten (darunter zwei in Moskau im September 1999) mit Hunderten von Toten führten zu einer weiteren Eskalation des russisch-tschetschenischen Konflikts. Mit schweren Luftangriffen und einem Vorstoß seiner Truppen am 30. 9./1. 10. 1999 leitete Russland eine neue Militärintervention in Tschetschenien ein; die brutale, international kritisierte Kriegführung löste eine Flüchtlingswelle von etwa 200 000 Menschen in die Nachbarregionen aus (v. a. nach Inguschien und Dagestan). Erst nach opferreichen Kämpfen, die nach russischen Angaben den Tod von etwa 14 500 tschetschen. Widerstandskämpfern forderten und rd. 2 500 russische Soldaten das Leben gekostet haben sollen (als Verlustzahl wiederholt als zu niedrig angezweifelt), konnte das russische Militär bis zum Frühjahr 2000 das Territorium größtenteils besetzen (im Januar/Februar Einnahme des völlig zerstörten Grosnyjs); die von russischen Truppen v. a. in die Gebirgsgegenden des Südens abgedrängten und dort verfolgten tschetschen. Rebellen leisteten aber weiterhin erbitterten Widerstand und gingen zu einem opferreichen Partisanenkrieg über. Im Juni 2000 wurde Tschetschenien (offiziell für eine Übergangsperiode) unter Direktverwaltung des russischen Präsidenten gestellt; zum Verwaltungschef ernannte man den tschetschen. Mufti Achmed Kadyrow. Im November 2000 setzte der russische Präsident W. Putin angesichts der weitgehend ungelösten Probleme einen speziellen Minister für Tschetschenien ein.
H. Krech: Der russ. Krieg in T. (1994-1996). Ein Hb. (1997).
Universal-Lexikon. 2012.