Akademik

Literaturnobelpreis 2000: Gao Xingjian
Literaturnobelpreis 2000: Gao Xingjian
 
Der Chinese erhielt den Nobelpreis »für ein Werk von universaler Gültigkeit, bitterer Einsicht und sprachlichem Sinnreichtum, das chinesischer Romankunst und Dramatik neue Wege eröffnet hat«.
 
 Biografie
 
Gao Xingjian, * Taizhou (Provinz Jiangsu, China) 1. 4. 1940; Schulbesuch in China, 1962 Examen in Französisch am Institut für Fremdsprachen in Peking, 1966-76 während der Kulturrevolution Umschulung, seit 1988 in Paris als politischer Flüchtling, 1989 Austritt aus der Kommunistischen Partei Chinas und Veröffentlichungsverbot in China, 1992 französischer Chevalier de l'Ordre des Arts et des Lettres.
 
 Würdigung der preisgekrönten Leistung
 
Gao Xingjian hat als erster Chinese den Nobelpreis für Literatur erhalten. Wie sein favorisierter Konkurrent Bei Dao lebte auch er zum Zeitpunkt der Preisverleihung seit langem nicht mehr in China und veröffentlichte seine neuesten Werke in der Sprache seiner Wahlheimat Frankreich.
 
 Für Freiheit und Individualität
 
Als Sprecher der Schwedischen Akademie wies Horace Engdahl Vorwürfe zurück, der Preis sei von vornherein für einen Chinesen reserviert gewesen: Man vergebe den Preis nicht nach Ländern und Sprachen. Dennoch war die Entscheidung für Gao nicht frei von politischen Erwägungen. Gaos Arbeiten böten Erklärungen für »geschichtlich katastrophale Entwicklungen in China« und die geringe individuelle Freiheit, meinte Engdahl. In der Begründung wurde die überragende Rolle des Individuums und der Freiheit in Gaos Werk hervorgehoben. Literatur und Freiheit würden bei ihm aus dem Kampf des Individuums gegen die Massen geboren. Er erhebe dabei jedoch nicht den Anspruch, die Welt zu erklären.
 
Erwartungsgemäß fasste die chinesische Parteispitze die Ehrung als herausfordernde Beleidigung auf, insbesondere Gaos Rede zur Entgegennahme des Preises, die er auf Chinesisch hielt. In ihr kritisierte er die Verfolgung und politische Nutzbarmachung von Schriftstellern durch die chinesische Regierung. In einer Mitteilung des chinesischen Außenministeriums hieß es: »Eine kleine Zahl von Leuten benutzt den Nobelpreis aus niederen Motiven. Indem die Gelegenheit der Preisverleihung benutzt wird, China anzugreifen, wird deren wahres Gesicht noch deutlicher.«
 
 Innere und äußere Flucht
 
Gaos Kritik stützt sich auf seine persönlichen Erfahrungen. Nach seinem Fremdsprachenstudium in Peking wurde er im Rahmen der Kulturrevolution aufs Land geschickt, wo er zehn Jahre verbrachte, zunächst zur Umerziehung, dann als Landarbeiter und Dorfschullehrer. Zuvor war er gezwungen worden, seine Manuskripte zu verbrennen. Den Grundstein für seine in China inakzeptable Auffassung von Literatur hatte Gao während des Studiums gelegt. Seine Französischkenntnisse erlaubten es ihm, Werke im Original zu lesen, die anderen Chinesen verborgen blieben. Nach eigener Aussage wurde er vor allem von Samuel Beckett (Nobelpreis 1969) und Antonin Artaud sowie Bertolt Brecht beeinflusst. Auch nach seinem Studium hatte er Zugang zur westlichen Literatur, weil die Kulturabteilung der französischen Botschaft in Peking ihn damit versorgte.
 
1975 durfte Gao in das städtische Kulturleben zurückkehren. Die Partei benötigte seine Sprachkenntnisse. Zu diesem Zeitpunkt hatte er neue Schriften und Übersetzungen moderner französischer Literatur angefertigt, die jedoch nicht veröffentlicht wurden. Ab 1979 durfte er als Dolmetscher ins Ausland reisen. Erst 1981 erschien sein erstes Buch, das von der chinesischen Partei als »geistige Verschmutzung« abgestempelt wurde. In ihm beschäftigt sich Gao mit dem »Handwerk« des modernen Romanautors. Seines Erachtens ist die Beherrschung der Technik Grundvoraussetzung für den modernen Schriftsteller.
 
Nur zwei von Gaos Dramen wurden in China aufgeführt. Nach dem Verbot des zweiten Stücks, »Das andere Ufer« (1986), begab sich Gao auf eine mehrmonatige Wanderung durch die Provinz Sechuan und von dort aus bis an die Küste. 1987 verließ er China, um sich in der Nähe von Paris niederzulassen. Nach dem Massaker auf dem Pekinger Platz des Himmlischen Friedens 1989 trat er aus der Kommunistischen Partei Chinas aus und verarbeitete die Ereignisse in seinem Drama »Flucht«. Daraufhin erklärte ihn die chinesische Regierung zur unerwünschten Person. Gao erwiderte mit dem öffentlichen Schwur, China nicht mehr zu betreten, solange dort eine autoritäre Regierung an der Macht sei.
 
 Absurdität und Verfremdung
 
Brechts Verfremdungstechnik, Becketts absurdes Theater und der »Nouveau Roman« bilden die Grundlage von Gaos Schaffen. Sein erstes in China aufgeführtes Stück, »Die Busstation« (1983), wurde als chinesische Variante von Becketts »Warten auf Godot« angesehen. Ein Parteifunktionär bezeichnete das Werk als »das Schädlichste, das seit Errichtung der Volksrepublik geschrieben wurde«.
 
Allerdings spielen auch die chinesische Landschaft sowie alte, im Kommunismus verschüttete Traditionen eine Rolle in Gaos Werken. Das ist vor allem in seinem Roman »Lingshan« (1990) der Fall, den Gao 1983 in China begonnen, aber in Frankreich veröffentlicht hat. Laut Laudatio handle es sich um »eine der seltenen literarischen Schöpfungen, die anscheinend mit nichts anderem als sich selbst verglichen werden können«. Der Roman hat eine Art Reise zu verschiedenen Schauplätzen und Geschichten Chinas zum Gegenstand. Die Reise kann auch als Reflexion des Protagonisten gedeutet werden, die ihn an der Grenze von Wirklichkeit und Fiktion entlangführt.
 
Die Schwedische Akademie erwähnt des Weiteren einen Roman, der an »Lingshan« anknüpft: »Die Bibel eines einsamen Menschen«. Das Werk beschäftigt sich mit der Kulturrevolution. Die darin enthaltene politische Kritik galt der Akademie als wichtiger Grund für seine Entscheidungsfindung. Gleichzeitig betonte es, dass Gaos Stück »Flucht« nicht nur die Partei, sondern auch die demokratische Bewegung in China verärgert habe.
 
Neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit widmet sich Gao der Malerei. Er illustriert seine Buchumschläge selbst und seine Werke waren auf nahezu 40 internationalen Ausstellungen vertreten.
 
Nur drei von Gaos Büchern waren zum Zeitpunkt der Preisverleihung in allgemein zugänglicher deutscher Übersetzung erschienen, »Die Busstation« (1988), »Flucht« (1992) und »Ja oder/und nein« (1999), zwei weitere in Zeitschriften. Der niedrige Bekanntheitsgrad Gaos und die geringen Auflagenzahlen — »Der Mann von dreihundert verkauften Büchern«, hieß es in einer großen deutschen Zeitung — provozierten bei der Presse Kritik an der Entscheidung des Nobelkomitees. Experten für chinesische Literatur waren der Meinung, die literarische Qualität seiner auf Chinesisch verfassten Werke sei mittelmäßig. So wurde in der Presse gemutmaßt, Grund für die exotische Entscheidung des Nobelkomitees sei die Tatsache, dass eines seiner Mitglieder, Göran Malmquist, der schwedische Übersetzer von Gaos Werken ist.
 
B. Rehbein

Universal-Lexikon. 2012.