Literaturnobelpreis 1921: Anatole France
Der französische Autor erhielt den Nobelpreis »in Anerkennung seiner glänzenden, von edler Stilkunst, weitherziger Humanität, Anmut und französischem Gemüt geprägten schriftstellerischen Leistung«.
Anatole France (eigentlich Jacques-François-Anatole Thibault), * Paris 16. 4. 1844, ✝ La Béchellerie bei Tours 12. 10. 1924; Schulbildung in Paris, 1876-90 Bibliothekar im französischen Senat, dann auch Lektor, zunehmend entschiedener Sozialist, ab 1896 Mitglied der Académie Française.
Würdigung der preisgekrönten Leistung
Als Erbe und Fortführer der klassischen französischen Tradition avancierte Anatole France, der verschiedentlich sogar mit Voltaire verglichen wurde, erst spät in seinem Leben zum Kandidaten für den Nobelpreis. Nur aufgrund des engagierten Gutachtens von Henrik Schück konnte er sich gegenüber der Mehrheit des Komitees durchsetzen, für die er wegen seiner skeptischen und sozialistischen Einstellung Nobels Forderung nach einer idealistischen Tendenz nicht zu erfüllen schien.
Humanismus und Romantik
Schück kritisierte in seinem Gutachten die nach seiner Meinung zu enge Auslegung des Begriffs »ideal«. Dadurch hätten zahlreiche Meisterwerke der Weltliteratur für den Nobelpreis keine Berücksichtigung finden können. Angemessener sei es, in die Auslegung des Idealismus auch den Humanismus und die Romantik von Frances Werk einzubeziehen. Ferner sei France kein untätiger Zweifler gewesen, sondern habe beispielsweise in der Dreyfusaffäre und im Weltkrieg öffentlich für die Menschlichkeit Partei ergriffen. Er habe sich vor Angriffen wegen seines humanistischen Engagements nicht gefürchtet.
Demgegenüber missfiel anderen Mitgliedern des Komitees der romantische und utopische Zug des Hauptstroms der französischen Klassik. Frances Werk enthalte wie das Voltaires zu viele epikureische Elemente und banale Anspielungen. Der idealistische Literaturpreis sei nach Nobels Testament nur für ernste Dichter bestimmt. Ferner sei France zu pazifistisch und sozialistisch eingestellt.
Damit ist das Wichtigste über Anatole France und sein Schaffen bereits gesagt. Die unterschiedliche Bewertung zeigt die großen Schwierigkeiten des Nobelkomitees, feste Kriterien für die Vergabe des Preises zu entwickeln. 1904 hatte das Komitee France sogar als »anstößig« betrachtet.
Klassische Literatur
Anatole France ergriff zunächst den Beruf des Bibliothekars. Neben seiner Arbeit verfasste er zahlreiche Werke verschiedenster literarischer Gattungen und entwickelte so seine schriftstellerischen Fähigkeiten. Im Alter von 15 Jahren hatte er bereits sein erstes Werk, »La Légende de Sainte Radegonde« (französisch; Die Legende von der Heiligen Radegunde), geschrieben, das er seiner Mutter zueignete. Als er 1881 mit seinem Roman »Die Schuld des Professors Bonnard« zum ersten Mal an die breite Öffentlichkeit trat, präsentierte er sich als Meister des klassischen französischen Stils.
Frances Gesamtwerk umspannt nahezu alle Gattungen, von denen die Preisbegründung keine besonders hervorhebt. Vor dem Hintergrund seiner Bildung kann es jedoch nicht verwundern, dass es sich bei seinen drei berühmtesten Werken, »Thaïs« (1890), »Die Bratküche zur Königin Pédauque« (1893) und »Zeitgenössische Geschichte« (1897-1901) um historische Romane handelt, voller Gelehrsamkeit und Respekt für die Welt des Wissens. Neben Humanismus und Skeptizismus zeichnen sich diese Romane durch stilistische Eleganz und Ironie aus.
»Thaïs« erzählt vor der Kulisse des spätantiken Ägypten die Geschichte einer Schauspielerin und ihres Verehrers, der sie ihr Leben lang vergeblich begehrt. Die aus armen Verhältnissen stammende Thaïs steigt über die zweifelhaften Gewerbe der Prostitution und des Tanzes zur gefeierten Mimin auf. Dabei sucht sie erfolglos dauerhaftes Glück in der Liebe, der Kunst und der Philosophie. Ihrem Verehrer gelingt es schließlich, sie zum Rückzug in ein Wüstenkloster zu bewegen, wo sie stirbt. In dem von der zeitgenössischen Kritik als Plagiat abgeurteilten Werk versuchte France, die lebensfeindlichen, intoleranten und machthungrigen Aspekte des Christentums offenzulegen. Die Handlung war sicherlich von seiner eigenen unerwiderten Liebe zu Madame de Caillavet inspiriert.
Im humoristischen Roman »Die Bratküche zur Königin Pédauque« berichtet der fiktive Erzähler von seiner Kindheit im väterlichen Restaurant. Nachdem er zunächst in kabbalistischer Weisheit unterrichtet wurde, begegnet ihm der Abbé Coignard mit der Ironie Voltaires. Sicher stellvertretend für France erklärt der Abbé am Ende seines Lebens, er ziehe das Gepräch mit den Büchern dem mit den Menschen vor. Sprache und Geist des Romans sind an das 18. Jahrhundert angelehnt, ausgeführt in einer Lebens- und Liebesgeschichte. In seiner Laudatio hob Erik Axel Karlfeldt (Nobelpreis 1931) »Die Bratküche zur Königin Pédauque« als Frances Meisterwerk hervor, insbesondere weil es ihm gelungen sei, die antiquierten Gestalten und Denkweisen zu unmittelbarem Leben zu erwecken.
Die vierbändige »Zeitgenössische Geschichte« thematisiert in Form einer Gesellschaftssatire die Zeitgeschichte. Mit ähnlichen Figuren, Handlungszusammenhängen und Stilmitteln wie in den vorherigen Romanen versucht France, die Intrigen im zeitgenössischen Frankreich vor dem Hintergrund der Dreyfusaffäre bloßzustellen. Für die Intrigen und die sozialen Missstände macht er die reaktionären gesellschaftlichen Kräfte, in erster Linie die Kirche, das Militär und die Justiz, verantwortlich. Protagonist aller vier Bände ist die in Frankreich zu einiger Popularität gelangte Figur des Lateinprofessors Bergeret, der das politische und gesellschaftliche Leben in endlosen Diskussionen scharf und ironisch analysiert.
Ideologie und menschliche Natur
Wenngleich Schück in seinem Gutachten France wegen seines Humanismus von Émile Zola abhob, ähnelt die sozialkritische »Zeitgenössische Geschichte« gerade Zolas Romanzyklus »Die Rougon-Macquart«. In den Romanen »Die Insel der Pinguine« (1908) und »Die Götter dürsten« (1912) hat France seine skeptische Betrachtung der Geschichte weiter vertieft und in eine noch negativere Beurteilung der Gegenwart münden lassen. Die französische Revolution im letztgenannten und eine halb fantastische, halb historische Kulisse im erstgenannten Buch bilden den Rahmen für die Entwicklung eines pessimistischen Bilds des für zerstörerische Ideologien anfälligen Menschen.
Mit »Das Leben der heiligen Johanna« (1908) hat France sein Bild der Gesellschaft anhand einer historisch-kritischen Biografie von Jeanne d'Arc plastisch zu gestalten versucht. Dem Mythos der Tradition stellte er ein vorsichtiges, aber umfassend entwickeltes Bild Johannas und der Gesellschaft, in der sie lebte, gegenüber. Als historisches Werk war das Buch sehr einflussreich. In Frankreich stieß es größtenteils auf hasserfüllte Reaktionen.
Anatole Frances Orientierung an der Ästhetik des 18. und 19. Jahrhunderts, unter anderem an Voltaire, Ernest Renan und dem Kreis der »Parnassiens«, führte dazu, dass er aufgrund seiner stilistischen Meisterschaft schon früh zu den Klassikern der französischen Literatur gerechnet wurde, aber kaum eine weiterführende Wirkung hatte. Seine Preiswürdigkeit wurde selten angezweifelt, wohl aber um die Frage ergänzt, warum etwa Émile Zola oder Marcel Proust der Preis vorenthalten blieb.
B. Rehbein
Universal-Lexikon. 2012.