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Galizien
Rothreußen (veraltet); Russia rubra (lat.)

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Ga|li|zi|en; -s:
historische Landschaft nördlich der Karpaten.

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Galizi|en,
 
historische Landschaft auf dem nördlichen Abhang und im Vorland der Karpaten, zwischen der oberen Weichsel und dem oberen Pruth, etwa 83 000 km2; von 1772 bis 1918 offizielle Bezeichnung für die in der 1. Polnischen Teilung von Österreich erworbenen Gebiete Kleinpolens und Rotreußens. Der Name wurde nach 1918 für die südpoln. Wwschaften Krakau, Lemberg, Stanislaw (heute Iwano-Frankowsk) und Tarnopol (Ternopol) verwendet und lebte 1941-45 im Distrikt Galizien des Generalgouvernements wieder auf. Westgalizien umfasst das Gebiet westlich des oberen San und gehört heute zu Polen, Ostgalizien das Gebiet östlich davon mit dem Flusstal des oberen Dnjestr und der Podolischen Platte (Wolhynisch-Podolische Platte) gehört mit einem kleinen Teil zu Polen, sonst zur Ukraine.
 
Geschichte:
 
Bis 1772 hatten die Teilgebiete Galiziens (Rotreußen, Kleinpolen) keine einheitliche gemeinsame Geschichte. Mit der Namengebung »Königreich Galizien und Lodomerien« knüpfte Österreich an die mittelalterliche Geschichte des Ostteils Galiziens, des Fürstentums Galitsch (Halitsch, ukrainisch Halytsch, latinisiert »Galicia«) am Dnjestr, an. Dort hatten in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts die Rostislawitschi begonnen, eine fürstliche Landesherrschaft auszubauen, die unter Jaroslaw Osmomysl (1153-87) eine Blütezeit erlebte und 1199 durch Roman Mstislawitsch (1170-1205) mit dem Fürstentum Wladimir (Wolhynien) vereinigt wurde. Nach dessen Tod 1205 erhoben Polen und Ungarn, dessen König (Andreas II.) seit 1206 den Titel »rex Galiciae et Lodomeriae« führte, Ansprüche, doch konnte sich nach langen Auseinandersetzungen schließlich der Sohn Romans, Daniil Romanowitsch (Daniel, Herrscher, Galizien und Wolhynien), 1238 durchsetzen und sich auch gegenüber dem tatarischen Oberherrn bis 1259 behaupten. Unter seinen Nachfolgern zerfiel das galizisch-wolhynische Fürstentum in mehrere Teilfürstentümer, die in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts zwischen den Nachbarn aufgeteilt wurden. Litauen erhielt Podlachien, Ostpodolien und Wolhynien, Polen erhielt 1387 das Fürstentum Galitsch als Reußen (regnum Russiae), das aus Galizien, dem äußersten Westen Wolhyniens und Westpodolien bestand. Die ungarische Königstitulatur blieb jedoch bestehen; sie diente Österreich bei der 1. Polnischen Teilung 1772 als Vorwand für seine Ansprüche, obwohl dabei weite Gebiete Kleinpolens einbezogen wurden, die nie zu Galitsch gehört hatten.
 
Österreich richtete nach 1772 eine zentralistische Verwaltung im »Königreich Galizien und Lodomerien« mit einem in Lemberg residierenden Gouverneur und deutschen und tschechischen Beamten ein (seit 1849 meist Kronland; 1786-1849 unter Anschluss der Bukowina), nahm aber auf die ethnischen Verhältnisse (47 % Polen, 45 % Ukrainer, 6 % Juden) kaum Rücksicht (Februarpatent). Die örtliche Verwaltung lag bei den Kreishauptleuten (18 Kreise wurden gebildet), durchweg landfremden Beamten. Die Sozialstruktur blieb trotz der Bauernbefreiung unter Joseph II. unverändert, da die Bauern kein Gutsland erhielten. Die Ansiedlung von 5 000 deutschen Familien (meist Protestanten aus der Pfalz) im ukrainischen Ostgalizien durch Joseph II. (ab 1774/81) sollte der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes dienen. Die Siedlungen blieben bis zur Umsiedlung der etwa 64 600 Galiziendeutschen 1939/40 (»Vertragsumsiedler«) als deutsche Sprachinseln bestehen. Im 18. Jahrhundert war Galizien ein bedeutendes Zentrum ostjüdischer Kultur- und Geisteslebens (Aufklärung; Chassidismus). Die Einschränkungen der jüdischen Ansiedlung und Selbstverwaltung (v. a. Toleranzpatent 1789) führten zur Abnahme der jüdischen Bevölkerung in Galizien, die im 19. Jahrhundert (Freizügigkeit durch das Oktoberdiplom von 1860; rechtliche Emanzipation durch die Dezember-Verfassung von 1867) wieder enorm anstieg (1803: 400 000; 1910: 900 000, 10,5 % der Bevölkerung); Massenflucht im Ersten Weltkrieg und die Verfolgungen nach 1918 (Pogrome; Holocaust während der deutschen Besatzung 1939-44) führten zur nahezu vollständigen Auslöschung jüdischen Lebens in Galizien (Galizier). - Territoriale Veränderungen ergaben sich durch die Angliederung der ehemaligen schlesischen Fürstentümer Auschwitz und Zator (1773), Westgaliziens (Kielce, Lublin; 1795-1809), durch den Verlust des Kreises Tarnopol an Russland (1809-15) und 1846 durch die Angliederung des Freistaates Krakau. - Ein polnisch-nationaler Aufstand im Frühjahr 1846 wurde blutig erstickt. Nach den Unruhen von 1848/49 und der Regulierung der Bodenfrage gelang unter dem polnischen Statthalter Graf A. Gołuchowski (dem Älteren) eine allmähliche Polonisierung der Verwaltung. Diese wurde 1868 zu einer autonomieähnlichen Sonderstellung ausgebaut, mit polnischer Amts- und Unterrichtssprache, polnischer Universität (Krakau, Lemberg) und regem geistigen und politischen Leben. Wirtschaftlich stagnierte das rein agrarische Land, sodass es zu einer starken Auswanderung in die USA kam. Der polnische Westteil ging 1918 problemlos, der ukrainische Ostteil erst nach heftigen Kämpfen im Juli 1919 an Polen über. Zur weiteren Geschichte Ukraine.
 
Literatur:
 
M. Hruševśkyj: Istorija Ukraïny-Rusy, 11 Bde. (Neuausg. Lemberg 1954-58);
 Galizien Rhode: Die Ostgrenze Polens, Bd. 1 (1955);
 Sepp Müller: Schrifttum über G. u. sein Deutschtum (1962);
 
Die Habsburgermonarchie. 1848-1918, hg. v. A. Wandruszka u. a., Bd. 3, Tl. 1 u. 2: Die Völker des Reiches (Wien 1980);
 N. L. F. Chirovsky: An introduction to Ukrainian history, 3 Bde. (New York 1981-86);
 Galizien Stökl: Das Fürstentum G.-Wolhynien, in: Hb. der Gesch. Rußlands, hg. v. M. Hellmann u. a., Bd. 1,1 (1981).
 

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Ga|li|zi|en; -s: historische Landschaft nördlich der Karpaten.

Universal-Lexikon. 2012.