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Zeit und Bewusstsein
Zeit und Bewusstsein
 
Der physikalisch-mathematische Zeitbegriff wird aufgrund der Methode ohne jeden Bezug auf das menschliche Bewusstsein bestimmt. Doch Zeit ist etwas, was jeder Mensch für sich selbst erlebt, was ihm etwas bedeutet und was er Tag für Tag gestalten muss. Eine umfassende Bestimmung von Zeit muss deshalb das erlebende Individuum, die Perspektive der ersten Person, von mir und von dir, einbeziehen. Im Unterschied zum wissenschaftlichen Zeitbegriff eignet der Lebenszeit eine existentielle Dimension. Vorausschau und Rückblick erschöpfen sich nicht in der distanzierten Registrierung von Fakten und deren kausalem Zusammenhang. Durch das Zeitbewusstsein kann auch ein Bezug zum eigenen Verhalten, zu dessen Zielen, Motiven und Folgen hergestellt werden. Vergangenheit und Zukunft werden gleichermaßen beurteilt und bewertet. Ziele können angestrebt, Verantwortung für mögliche Folgen übernommen und Schuld aufgearbeitet werden.
 
 Die Funktion des Gedächtnisses
 
Als Erster hatte Augustinus die unverzichtbare Funktion des Gedächtnisses für die menschliche Zeitwahrnehmung erörtert. Der Eindruck, dass ein besonderes Ereignis weit zurückliegt, eine Reise lange gedauert hat oder eine ersehnte Begegnung kurz bevorsteht, ist nicht an den Geschehnissen selbst ablesbar. Dass wir Zeiten messen können, beruht also, so argumentiert Augustinus, darauf, dass wir uns an Vergangenes erinnern, Zukünftiges erwarten und beides miteinander verknüpfen können.
 
Was wir allerdings als gleichzeitig oder als nacheinander wahrnehmen, hängt nicht nur von den äußeren Ereignissen und unserer Erinnerung ab, sondern auch von physiologischen Prozessen: Unterhalb bestimmter sinnesphysiologischer Schwellen werden zwei unmittelbar nacheinander erfolgende Ereignisse als simultan erfahren. Erst wenn sie mindestens 30 Millisekunden auseinander liegen, kann der Mensch sie getrennt wahrnehmen. Während dieses kurzen Augenblicks gibt es Zeit im subjektiv erlebten Sinn nicht. Die einzelnen Zeitfenster von 30 Millisekunden werden ihrerseits zu einem Zeitrahmen von etwa zwei bis drei Sekunden, der subjektiven Gegenwart, zusammengefasst. Im Unterschied zur physikalischen Zeitbestimmung ist Gegenwart im neurophysiologischen Kontext kein ausdehnungsloser Punkt auf dem Zeitstrahl, sondern vielmehr ein begrenztes Intervall.
 
Dieser Zeitrahmen, in dem Informationen integriert und dem aktiven Handeln ein gewisser Spielraum eröffnet wird, gehört zur biologischen Ausstattung und lässt sich nicht kulturgeschichtlich erklären. Die Dauer dieser Form von Gegenwart lässt sich allerdings ausschließlich empirisch durch Experimente messen. Das Zeitempfinden des Menschen selbst erschließt sich jedoch, wie alle qualifizierten Wahrnehmungen, nur dem individuellen Erleben. Die Frage, wie sich unter der Perspektive der ersten Person, des denkenden, fühlenden, handelnden Individuums, die Gegenwart darstellt, lässt sich daher durch die empirischen Wissenschaften nicht befriedigend beantworten. Kann ein durch Messbarkeit, Homogenität und die Ordnung des Nacheinander bestimmtes Verständnis von Zeit die Struktur des inneren Erlebens überhaupt erfassen?
 
 Der synthetische Charakter der Zeit
 
Nicht nur von der Dauer eines Reizes, der Anzahl an Informationen und der physiologischen Verarbeitung hängt das Zeitempfinden ab, sondern auch von der Intention, der Aufmerksamkeit, die jeder Einzelne einem Ereignis zuwendet. Die Bedeutung der Intention für die zeitliche Struktur des Erlebten zeigt sich exemplarisch beim Hören einer Melodie. Weder, so erläutert Edmund Husserl (1859 bis 1938) in der »Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins«, folgen die einzelnen Töne bloß nacheinander noch erklingen sie alle gleichzeitig. Die Zeitbestimmtheit der Melodie wird gebildet durch die Synthese der vergangenen Töne, die in der Erinnerung noch gegenwärtig sind, mit den gerade erklingenden Tönen und der Erwartung derer, die noch folgen werden.
 
Erst indem die Vergegenwärtigung des Vergangenen und die Ausrichtung auf Zukünftiges die einzelnen Wahrnehmungen zu einer inneren Einheit verbinden, kann man von einem Musikstück, einem Gespräch oder einem Gedicht sprechen. Ein Gespräch erschöpft sich nicht in dem bloßen Nacheinander einzelner Worte; erst indem das schon Gehörte mit dem gerade Gesprochenen verbunden wird, gewinnt eine Mitteilung ihren Sinn. Der synthetische Charakter des zeitlichen Erlebens ist freilich nicht nur für einzelne Handlungen entscheidend, sondern für die menschliche Identität insgesamt: Sieht man in ihr nur ein Ergebnis des Zusammenwirkens biologischer Gesetze und sozialer Bedingungen, dann löst sie sich in eine Vielzahl unzusammenhängender Rollen auf, die ein Mensch während seines Lebens spielen muss. Doch jenseits dieser verschiedenen Funktionen, ungeachtet des Wandels seiner Ansichten und sozialen Verhältnisse erkennt er sich selbst in all diesen Veränderungen wieder. Die persönliche Identität ist weder ein loses Bündel einzelner Erlebnisse noch bildet sie sich aus ihrer stetigen Abfolge. Erst durch die zeitliche Synthese des Erlebten wird die Vergangenheit mit der Zukunft zur Einheit der Erfahrung verknüpft. Die Person dauert gerade im Zusammenspiel einzelner und zeitlich weit auseinander liegender Erlebnisse. Da diese immer wieder neu integriert werden, ist die menschliche Identität keineswegs statisch. In dieser letztlich unabschließbaren Synthese gewinnt das Leben seine Offenheit für die Zukunft. Lebendigkeit und geistige Beweglichkeit verdanken sich der Fähigkeit, Neues in den schon bekannten Erlebnishorizont zu integrieren, diesen zu erweitern und zu verwandeln.
 
 Die Gegenwart: Übergang oder Dauer?
 
In der Perspektive des erlebenden Individuums erscheint die Gegenwart nicht mehr als der unteilbare Punkt des Umschlags zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen einem Noch-Nicht und einem Nicht-Mehr, zwischen Möglichem und Faktischem, wie Aristoteles dachte. Die Gegenwart, so hat Henri Bergson (1859 bis 1941) betont, liegt zugleich diesseits und jenseits des mathematischen Punkts, der Vergangenheit und Zukunft trennt; sie »beansprucht notwendigerweise eine gewisse Dauer.« Die Vergangenheit beeinflusst die Gegenwart, und doch ist ihre Wirkung nicht nur die Folge der linearen Verkettung von Ursachen und Wirkungen. Die Vergangenheit ist unabgeschlossen: Ein Ereignis kann die Erinnerung an eine lange zurückliegende Erfahrung wecken und deren Bedeutung verändern. Jede neue Wahrnehmung ist ihrerseits von Elementen vergangener Erfahrungen durchdrungen, sodass die Gegenwart erst im Licht der Vergangenheit ihre Konturen gewinnt. Meistens werden freilich nur die Erinnerungen bewusst, die für das gegenwärtige Denken, Fühlen und Handeln brauchbar sind. Letztlich beeinflussen jedoch auch die nicht zum Bewusstsein gelangenden Erinnerungen die Gegenwart. Sieht man, wie seit der Neuzeit üblich, die homogene Zeit als objektiv und allgemein gültig an, dann scheint der individuelle Lebensrhythmus eine rein subjektive Bedeutung zu haben. Doch wenn sich die eigene Identität erst durch die Synthese der einzelnen Erfahrungen, Gefühle und Gedanken bildet, verändert sie sich mit jedem Erlebnis, das zu den bisherigen hinzutritt. Keine Minute gleicht der nächsten; sie wäre anders, wenn ein bestimmtes Ereignis nicht stattgefunden hätte. Jeder Augenblick ist einmalig und unwiederholbar, sodass die innere Zeit eine qualitative Mannigfaltigkeit ist.
 
Wie Gottfried Wilhelm Leibniz (1646 bis 1716) so gelangt auch Bergson durch die Analyse der Zeit zu dem Ergebnis, dass es nie zwei Individuen geben kann, deren Erlebnisse miteinander identisch sind. Das innere Erleben ist nicht nur im beiläufigen Sinn, sondern wesentlich einzigartig. Dadurch hat jeder Mensch »seine Zeit«.
 
 Die existentielle Dimension der Zeit im täglichen Leben
 
Der Fähigkeit, erworbenes Wissen symbolisch darzustellen, verdanken die Menschen ihre Geschichtlichkeit. Ebenso wenig wie die eigene Biografie, ist die Menschheitsgeschichte eine gleichgültige Verkettung von Ereignissen: Die Verfehlungen früherer Generationen stellen einen Anspruch an die gegenwärtig Lebenden; diese wiederum sind dazu verpflichtet, durch vorausschauendes Handeln die Lebensmöglichkeiten künftiger Generationen zu achten.
 
Doch die Zeit ist nicht nur mit Entfaltung und Fortschritt, sondern auch mit Niedergang und Verfall verbunden. Die Doppelgesichtigkeit der Zeit stellten die Griechen in einem mythischen Bild dar: Kronos, der Weltenherrscher und Sinnbild der Zeit, verschlingt seine Kinder, weil er fürchtet, dass einer seiner Söhne ihn entmachten könnte. Er vernichtet das, was er selbst erzeugt hat. Diese Ambivalenz spiegelt sich noch in Goethes Einsicht vom »Stirb und Werde« als Grundgesetz des Lebens. Für Lebewesen, die sich ihrer selbst bewusst sind, ist die Erfahrung der Sterblichkeit leidvoll. Das menschliche Leben, so klagte der frühgriechische Dichter Pindar (5. Jahrhundert v. Chr.), sei so flüchtig wie der Traum eines Schattens. Im Mittelalter verband man die Zeit mit dem Alter: Der Greis, geflügelt und hager, mit einer Sense in der Hand, war das Sinnbild der Zeit.
 
Dass auch heute die Erfahrung der Vergänglichkeit nicht wesentlich anders erlebt wird, kann man an den Zielen ablesen, die einige Vertreter der modernen Wissenschaften propagieren: Hans Moravec und Marvin Minsky, die sich um die Entwicklung der künstlichen Intelligenz bemühen, hoffen, den Menschen unsterblich zu machen, indem alle Informationen des Gehirns auf eine Diskette gespeichert und in einen Roboterkörper eingegeben werden. Daniel Cohen, ein Vertreter des französischen Genomprojekts, vermutet, dass das Altern biologisch programmiert ist und durch die Gentechnologie die Lebensspanne, möglicherweise auf unbestimmte Zeit, verlängert werden könne. Dann würden allerdings immer mehr Menschen immer älter. Die Erde würde total übervölkert — oder es müsste eine drastische Geburtenkontrolle durchgesetzt werden, sodass es fast keine jungen Menschen mehr geben würde. Doch ungeachtet dieser Probleme stellt sich die Frage: Würde die unbegrenzte zeitliche Dauer, eine schlechte Unendlichkeit also, tatsächlich genügen, um das Gefühl, keine Zeit zu haben, zu beseitigen?
 
Priv.-Doz. Dr. Regine Kather
 
Weiterführende Erläuterungen finden Sie auch unter:
 
Zeiterleben im interkulturellen Vergleich
 
Grundlegende Informationen finden Sie unter:
 
Zeit: Die naturwissenschaftlich-philosophische Sichtweise
 
Literatur:
 
Klassiker der modernen Zeitphilosophie, herausgegeben von Walther C. Zimmerli u. a. Darmstadt 1993.
 Pöppel, Ernst: Grenzen des Bewußtseins. Wie kommen wir zur Zeit, und wie entsteht Wirklichkeit? Neuausgabe Frankfurt am Main u. a. 1997.
 
Die Wiederentdeckung der Zeit. Reflexionen — Analysen — Konzepte, herausgegeben von Antje Gimmler u. a. Darmstadt 1997.

Universal-Lexikon. 2012.