Australi|er.
Zur Zeit der Ankunft der Europäer lebten auf dem australischen Kontinent etwa 300 000 Menschen, aufgegliedert in etwa 500 Stämme. Heute gibt es nur noch etwa 30 000 reinblütige australische Ureinwohner (Aborigines oder Aboriginals) und (1994) etwa 270 000 Mischlinge. Nur noch wenige leben in ihrer traditionellen Kultur. Oft fälschlich als Australneger bezeichnet, bilden sie die eigene typologische Kategorie der Australiden. Ihre Sprachen werden als eigene Sprachgruppe zusammengefasst.
Die Australier lebten als Jäger und Sammler, wobei theoretisch eine strenge Arbeitsteilung vorgeschrieben war: Die Männer gingen zur Jagd (Känguru, Emu, Opossum), an der Küste auch zum Fischfang, die Frauen sammelten (Wurzeln, Knollen, Beeren, Würmer, Insekten). In der Praxis jedoch wurden viele Arbeiten gemeinsam verrichtet. Der materielle Kulturbesitz bestand aus wenigen, den besonderen Bedürfnissen entsprechenden Waffen und Geräten: Speeren und Speerschleudern, Keulen und Bumerangs; Grabstöcken, flachen Holz- oder Rindengefäßen und Steinmörsern, Netzen und Körben. Töpferei sowie Metalle waren unbekannt. Man ging nackt, nur in kühleren Gebieten wurden Fellmäntel getragen. Als Behausungen dienten Windschirme und einfache Hütten aus Zweigen oder Rindenstücken. Knochen-, Muschel- und Steinwerkzeuge fanden vielseitige Verwendung. Die politische Einheit war die Horde, bestehend aus einer lokalen Verwandtschaftsgruppe (Klan), der ein bestimmtes Stück Land gehörte. Horden mit gleicher Sprache bildeten gelegentlich einen Stamm. Häuptlingstum war wenig ausgebildet; die wichtigste Rolle bei allen Entscheidungen spielte der Altenrat. Neben den lokalen Verwandtschaftsgruppen gab es überterritoriale totemistische Klanverbindungen und Heiratsklassen, in denen die Heirat zwischen den Mitgliedern der einzelnen Klassen geregelt war.
Das Geistes- und Kultleben wurzelte in der Vorstellung von einer mythischen Ur- und Schöpfungszeit (»Traumzeit«). Nach den mythischen Überlieferungen wurde die urzeitliche Welt von Kulturbringern durchwandert, die aus der Erde kamen und dem Land seine heutige Gestalt gaben; ihr Denken und Handeln bestimmte die Normen für alle Sitten und Gebräuche. Kult und Zeremonialleben bestehen in Wiederholungen des Urzeitgeschehens in Gesang und dramatischer Aufführung. Die Kultobjekte (»Tjuringas«) sind Manifestationen der Lebens- und Schöpferkraft der mythischen Ahnen. Das zentrale Ereignis im Leben eines Mannes (Frauen sind weitgehend vom Kultleben ausgeschlossen) ist die Initiation, bei der er nach zum Teil langer Lehrzeit in die Traditionen seiner Gruppe eingeführt und beschnitten wird. Erst danach gilt er als heiratsfähiger Mann.
Alle Lebensbereiche der traditionellen australischen Gesellschaft sind mit künstlerischem Tun verbunden. Die verschiedensten kreativen Tätigkeiten ergänzen sich: das Malen von Bildern, Erzählen von Mythen, Tanz und Musik (australische Musik). Es gibt keine Spezialisierung der Künste und der Künstler. Schilde und Speerschleudern sind mit Kerbschnitzereien verziert oder mit geometrischen Mustern bemalt. Geräte der Frauen, wie Rindenmulden und -eimer oder Netztaschen, tragen bunte Muster. Verwendet wurden früher nur Erdfarben: roter und gelber Ocker, Pfeifenton und Holzkohle. Die Hauptentfaltung der künstlerischen Betätigung der Australier findet sich jedoch im Kultleben. Die Tjuringas u. a. Kultobjekte sind mit geometrischen Mustern beschnitzt oder bemalt. Sorgfältiger Körperschmuck wird durch Bemalen und Bekleben mit Federn hergestellt. Sandbilder aus kunstvollen, stilisierten Mustern, ebenfalls mit Farben und Federflaum, werden für die Zeremonien auf den Boden gemalt. Eine zentrale Rolle spielen die Felsbilder, Felsmalereien und -gravierungen; sie stellen meist Urzeitgeschehnisse und archaische Traumbilder durch symbolhafte, stilisierte und bedingt naturalistische Motive dar. Von besonderem ästhetischen Rang sind sie im Norden, im Gebiet von Arnhemland. Die in ihren Ursprüngen etwa 20 000 Jahre alte Tradition der Felsbilder war noch vor zwei bis drei Generationen ungebrochen. Im jahreszeitlichen Rhythmus und zu bestimmten Zeremonien wurden die Felsbilder erneuert.
Figürliche Darstellungen sind aus Ost- und Nordaustralien bekannt, wo Felsbilder von Menschen und Tieren und kleine menschliche Vollplastiken aus Holz sowie Malerei auf Eukalyptusrinde (Arnhemland) gefunden wurden. In der westlichen Wüste gibt es vereinzelt flache Menschendarstellungen aus Holz. In der Gegenwart werden die traditionellen Motive der zentralaustralischen Sandbilder auf Acrylbilder umgesetzt, allerdings sind diese meist auch inhaltlich von der europäischen Zivilisation beeinflusst. - In Shepparton, rd. 180 km nördlich von Melbourne, wurde 1984 das »Shepparton International Aboriginal Village« als erstes National Aboriginal Museum eingerichtet (Kunst, materielle Kultur u. a.).
Die vor etwa 40 000 -50 000 Jahren (nach weiter reichenden Schätzungen sogar vor über 100 000 Jahren) nach Australien eingewanderten Ureinwohner lebten bis zur Entdeckung des Kontinents durch europäische Seefahrer in kontinentaler Abgeschlossenheit ganz nach ihren Stammesgewohnheiten und -gesetzen in weitgehendem Einklang mit der Natur. Seit 1788 (Beginn der von Großbritannien ausgehenden Besiedlung Australiens) brachen die Europäer in ihre Lebenswelt ein und zwangen den Aborigines durch die rasche Kolonialisierung des Kontinents einen existenzgefährdenden Überlebenskampf auf. Der Umgang der weißen Australier mit den Ureinwohnern durchlief seitdem mehrere Entwicklungsetappen; geprägt war er jedoch lange von der Grundhaltung, dass Australien bis zur britischen Besitzergreifung eine »terra nullius« (Niemandsland ohne Besitzer, auf dem sich lediglich einige Eingeborene befanden) gewesen sei. Zunächst verdrängten die Siedler, die Land von der britischen Krone erhalten hatten, die Aborigines aus den landwirtschaftlich nutzbaren Gebieten und töteten viele von ihnen. Vereinzelte Missionstätigkeiten unter den Aborigines (z. B. durch die »Gossnerschen Brüder« und die lutherische »Hermannsburg«, beide aus aus Deutschland), die sich auch um eine Milderung des Zusammenpralls der Kulturen bemühten, blieben in ihrer Wirksamkeit stark beschränkt. Nach der Vertreibung aus ihren angestammten Jagd- und Lebensgebieten wurden die Aborigines zu einem großen Teil in entlegenen, von der Versorgung durch staatliche Behörden abhängigen Reservaten untergebracht. Auf diese Weise auch weitgehend aus dem gesellschaftlichen Bewusstsein des »weißen Australien« verdrängt, führte ihre Entwurzelung und die Bevormundung durch weiße Regierungsbehörden zum teilweisen Verlust ihrer traditionellen Identität (u. a. Ausbreitung des Alkoholismus).
Nach dem Scheitern einer seit den 1940er-Jahren vom australischen Staat betriebenen Politik der »Assimilierung« der Aborigines (Plan einer langsamen Heranführung an die Lebensweise der weißen Bevölkerung) leitete man in den 1960er-Jahren den Versuch ihrer allmählichen Integration in die australische Gesellschaft ein (Ziel, den Aborigines eine neben den anderen Bevölkerungsgruppen gleichberechtigte Stellung einzuräumen und eine eigenständige Pflege ihrer Kultur zu ermöglichen). 1962 wurde ein Rat für die Rechte der Ureinwohner (»Council for Aboriginal Rights«) in Darwin (Northern Territory, wo ein Großteil der Urbevölkerung lebt) gegründet; 1967 erhielten die Aborigines die Bürgerrechte. Unter der Regierung Whitlam (1972-75) wurde ein zuvor geschaffenes »Office of Aboriginal Affairs« zu einem Ministerium erhoben. Dieser Wandel war nicht zuletzt auch durch das wachsende eigene Engagement der Aborigines für ihre Rechte möglich (z. B. Widerstand gegen Unternehmen, die in den Reservaten Bodenschätze abzubauen begannen; Mitte der 1970er-Jahre Gründung eines »National Aboriginal Consultation Committee«, später abgelöst von der »National Aboriginal Conference«). Die Regierungspolitik einer »self-determination« (»Selbstbestimmung«) der Aborigines in allen wirtschaftlichen, sozialen und gesellschaftlichen Fragen wurde zwar später auf »self-management« reduziert, aber in der zentralen Frage des Landrechts der Ureinwohner kam es zu ersten wichtigen Zugeständnissen an diese. Durch den »Aboriginal Land Rights (Northern Territory) Act« vom 16. 12. 1976 wurde den Aborigines z. B. das Eigentumsrecht an den Reservaten im Northern Territory (rd. 26 % des Territoriums) übertragen. In diesem Zusammenhang entstanden Mitte der 1970er-Jahre die »Land Councils«, lokale Verwaltungs- und Führungszentren der Ureinwohner, die auch Verhandlungsrechte in Bezug auf das ihnen überantwortete Territorium erhielten und über die Achtung der ihnen heiligen Stätten zu wachen begannen (1983 seitens der Regierung Rückgabe von Ayers Rock mit dem ihn umgebenden Uluru-Nationalpark an die Ureinwohner, die dieses Gebiet wieder für den Tourismus an den Staat verpachteten). Nachdem das australische Verfassungsgericht 1992 den Rechtsanspruch der Aborigines auf Land bestätigt hatte (»Fall Mabo«, benannt nach dem Kläger Eddi Mabo), gelang der Regierung Keating in einer gesetzlichen Regelung (»Native Title Act«) im Dezember 1993 (in Kraft seit 1. 1. 1994) ein Kompromiss zwischen den Interessen der Ureinwohner und der weißen Land- und Minenbesitzer, der den Aborigines einen gesetzlichen Anspruch auf Gebiete einräumt, zu denen sie traditionelle Bindungen nachweisen können (nur Staatsland rückübereigenbar). Nach jahrelangen Verhandlungen sicherte die Regierung 1994 auch den 1953 wegen britische Atomwaffenversuche von ihrem Land in South Australia vertriebenen Aborigines eine Entschädigung und eine Entseuchung des Gebiets zu.
Der deutliche Verbesserung der Rechtssituation der Ureinwohner in den letzten Jahrzehnten stand jedoch bis in die 1990er-Jahre der innerhalb der australischen Gesellschaft sehr niedrige Lebensstandard und die komplizierte soziale Lage der Aborigines gegenüber (nach einem von der Regierung in Auftrag gegebenen, Ende 1994 vorgelegten Bericht u. a. etwa 70 % Arbeitslose unter den in städtischen Agglomerationen lebenden Aborigines, Notstand in deren Gesundheitswesen, um 15 bis 20 Jahre niedrigere Lebenserwartung als im gesellschaftlichen Durchschnitt); dem versuchte die Regierung besonders mit verstärkten materiellen Unterstützungen für die Ureinwohner beizukommen (z. B. Verdoppelung der Ausgaben des Gesundheitsprogramms für den Zeitraum 1994-99).
F. Hermann: Völkerkunde Australiens (1967, mit Bibliogr.);
K. Kupka: Peintres aborigènes d'Australie (Paris 1972);
E. Rowlison u. a.: Aboriginal Australia (Sydney 1981);
G. Schlatter: Bumerang u. Schwirrholz. Eine Einf. in die traditionelle Kultur austral. Aborigines (1985);
E. Supp: Australiens Aborigines. Ende der Traumzeit? (1985);
M. Brüll u. a.: Kultur der Traumzeit (1991);
Aratjara Kunst der ersten A., hg. v. B. Lüthi (1993);
R. Lawlor: Am Anfang war der Traum. Die Kulturgesch. der Aborigines (a. d. Amerikan., 1993);
Hier finden Sie in Überblicksartikeln weiterführende Informationen:
steinzeitliche Lebensformen heute
Australien und Südsee: Entdeckung und Erkundung von Paradies und Hölle
Universal-Lexikon. 2012.