Al|ter|na|tiv|kul|tur, die:
vgl. ↑ Alternativbewegung.
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Alternativkultur,
auf die Träger der Alternativkultur bezogen auch: Alternativbewegung, seit Beginn der 70er-Jahre verstärkt in Erscheinung tretende kulturelle Theorien und Formen von Protest- und Reformbewegungen, die sich als Alternative zu Kultur und Wertordnung der bürgerlichen Gesellschaft verstehen.
Die Anhänger der Alternativkultur wenden sich gegen den bürgerlich-idealistischen Kulturbegriff und die Stilisierung und Institutionalisierung des »Kulturbetriebs«. Kultur gilt als Prozess und Ergebnis der Entwicklung der gesamten Lebensverhältnisse von der Sozialstruktur bis zur Wohnarchitektur, als kreatives Neuschaffen und Umschaffen des Bestehenden und Überkommenen; die Aktivitäten reichen dabei von bewusster Ernährung und Gesundheitspflege über Bemühungen um neue Inhalte und Formen der Erziehung bis zu alternativen Einrichtungen der Buchproduktion und -verbreitung, der Zeitung (Alternativpublizistik) und des Theaters. Die so verstandene Kultur soll im Gegensatz zur »privatisierenden« etablierten Kultur im Alltag und in der Öffentlichkeit (Straßen und Plätze: Straßenmusik, -theater, Pflastermalerei) ihren Raum haben, soll wieder »Volkskultur« (v. a. auch Arbeiterkultur) sein.
Die Alternativbewegung, deren Anliegen die Durchsetzung der Alternativkultur ist, aktualisiert sich in der Entwicklung von neuen Lebensformen und Wertorientierungen oder -gewichtungen. Grundanliegen ist, der »Kolonialisierung der Lebenswelt« (J. Habermas), d. h. dem weiteren Übergreifen der technisch-wissenschaftlichen Rationalität auf alle nur denkbaren Lebensbereiche, entgegenzuwirken. Zentrale Bedeutung wird dabei den kleinen sozialen Einheiten beigemessen (projektorientierte Kleingruppen, Wohngemeinschaften, auch Selbsterfahrungs-, Selbsthilfe- und Therapiegruppen). Die hiermit verknüpfte Abkehr von den materialistischen Werten des einseitigen Wohlstands- und Besitzstrebens und den »bürgerlichen« Tugenden des Leistungsstrebens und Karrieredenkens ist zugunsten von »postmaterialistischen Werten« (R. Inglehart) wie Partizipation und Solidarität, Selbstverwirklichung und Erhaltung der natürlichen Lebenswelt und der Ressourcen für die kommenden Generationen gekennzeichnet.
Wesentlicher Bestandteil der Alternativkultur ist die alternative Ökonomie; sie wendet sich gegen die Ausbeutung des Menschen und der Natur und sieht Arbeit als Medium persönlicher Sinnerfüllung an. Die als »bürgerlich-kapitalistisch« bezeichnete Wirtschaftsgesellschaft sei geprägt von Großunternehmen, Großtechnologie und einer Wirtschaftsweise, die zunehmend die natürlichen Lebensgrundlagen zerstöre und den Menschen von Produktion und Konsum abhängig mache. Die geforderten neuen Produktionsziele, -formen und -methoden (alternative Unternehmen) sind an den Prinzipien orientiert, dass der Natur nur ein Minimum an Ressourcen entnommen wird und dass Rückstände, Abfälle und Müll in mitzuplanende Prozesse des Recyclings einbezogen werden. Zu diesem Konzept gehören auch Selbstversorgung einschließlich Naturalien- und Gebrauchsgütertausch in Kollektivgemeinschaften sowie eine alternative Landwirtschaft. Von den Wissenschaften wird die verstärkte Beschäftigung mit Problemen gefordert, deren Lösung zur Verwirklichung dieses Konzeptes beiträgt; zum anderen strebt man in Abkehr vom »organisierten Wissenschaftsbetrieb« die Wiederbelebung älterer Einsichten und Fähigkeiten zur Lebensbewältigung an (z. B. Volksmedizin).
Im naturwissenschaftlich-technischen Bereich haben die neuen ökologischen Disziplinen und alternativen Technologien (besonders der Energiegewinnung, erneuerbare Energien) grundlegende Bedeutung für die Weiterentwicklung der Alternativkultur. Eine alternative Architektur soll in Abkehr von bisherigen Konzepten (Hochhausbau, Vollklimatisierung, Kleinküchen, kommunikationsfeindliche Fenster- und Türenanordnung) den Wohnbereich so gestalten, dass er allen Altersgruppen gerecht wird, Kommunikation und Gruppenbildung erleichtert, zu Aktivitäten im Freien animiert und die Natur einbezieht. Als vorbildlich gelten niederländische Beispiele, aber auch die avantgardistische Architektur, die in neuen Wohngemeinschaften in Kalifornien, Arizona und Texas entstanden ist (z. B. P. Soleris' »Arcosanti« in Arizona; Auroville in Südindien; Wiener »Hundertwasser-Haus«). Weitere Elemente dieser alternativen Architektur sind die Rückgewinnung des Straßenbezirks durch »Straßenmöbel« und Straßenfeste sowie die Schaffung von Kommunikationszentren.
Entstehung und Entwicklung
Sozialgeschichtlich betrachtet, ist die Alternativbewegung eine neue Erscheinungsform der Protest-, Reform- und Erneuerungsbewegungen, die die bürgerliche Gesellschaft in allen Entwicklungsphasen begleiten. Als Vorläufer und weiterhin wirksame Bewegungen kann man sowohl den Anarchismus als auch die Anthroposophie, die Lebensreform- und die Jugendbewegung und auch schwärmerische Natur- und religiös motivierte Erneuerungs- und Heilsbewegungen ansehen. Eine ältere Kultur-, Zivilisations-, Großstadt- und Fortschrittskritik hat sich mit neueren Entwicklungen vermischt. Für die Aktualisierung der Alternativkultur und Alternativbewegung seit den 60er-Jahren spielten zunächst jugendliche Protestbewegungen und Subkulturen (Gammler, Provos, Klabouters, Hippies), dann die studentische Protestbewegung und schließlich die Umweltkrisen und der zügige Ausbau von Kernkraftwerken eine überragende Rolle. Bei der anfänglich sehr breiten und intensiven theoretischen Fundierung der Alternativkultur standen die Lehren der Frankfurter Schule (v. a. Schriften von H. Marcuse und die Kritik T. W. Adornos am »Kulturbetrieb«) und neomarxistische Denker und Zivilisationskritiker (E. Bloch, H. Lefebvre), Kritiker der Umweltzerstörung, der Kernkraftnutzung und der Energievergeudung (R. Jungk) im Vordergrund. Eine gewisse Bedeutung hatte auch die Orientierung an den Großkommunen der Hutterer in Nordamerika und den Kibbuzim in Israel. Diese Orientierung hatte entscheidend zu tun mit der Verlagerung der Zielsetzung (v. a. marxistisch orientierter Richtungen), von einer unmittelbaren gesamtgesellschaftlichen Veränderung auf die Umgestaltung von konkreten Erscheinungen des sozialen und kulturellen »Nahbereichs«, wodurch die unmittelbare politische Auseinandersetzung mit dem Bestehenden, wie sie noch für die APO (außerparlamentarische Opposition) kennzeichnend gewesen war, zurücktrat. Von abnehmender Bedeutung waren traditionelle Formen und Inhalte einer »linken« Gesellschaftskritik; dem »real existierenden Sozialismus« wurden zum Teil die gleichen Vorwürfe gemacht wie den bürgerlichen Gesellschaften. Die Entwicklung der Alternativbewegung seit Beginn der 70er-Jahre kann auch als Reaktion auf die immer stärkere Bürokratisierung aller Daseinsbereiche gesehen werden.
Diese und andere Anlässe und Ansätze des Protestes, besonders die seit Mitte der 70er-Jahre sich verstärkende neuere Frauenbewegung, führten zu einer sich mehr und mehr konsolidierenden Form der Alternativbewegung. Aus den Alternativen Listen und Bündnissen entstand die Partei der Grünen (die »Alternativen«), die jedoch nicht das gesamte Spektrum der Alternativkultur und der Alternativbewegung repräsentierte. Auch in den »staatssozialistischen« Gesellschaften Ost- und Mitteleuropas entwickelten sich ab Ende der 70er-Jahre zunehmend Elemente einer Alternativkultur (»Subkultur«, Bürgerbewegungen u. a.), die zu deren Erosion beitrugen (bis 1989/90).
Inzwischen haben Alternativkultur und Alternativbewegung als Teil der sozialen Bewegung nicht mehr die Aktualität, die ihnen in den 70er-Jahren zukam. Einige der (einstmals) neuen Lebensformen und Zielsetzungen sind zu einem selbstvertändlichen Teil der allgemeinen und politischen Kultur und der heutigen Wertauffassung geworden, zum Teil aber auch nur in rethorischen Selbstdarstellungen eingeflossen und haben damit an aktuellem Protestpotenzial verloren. Andere Zielsetzungen erwiesen sich als nicht realisierbar oder vermittelbar.
Zum Erscheinungsbild der Alternativkultur rechnen auch die in den einzelnen Städten und Stadtteilen (z. B. Berlin, Frankfurt am Main) und Regionen (z. B. Ruhrgebiet) sehr unterschiedlich ausgeprägten »Szenen«, wozu ein überproportionaler Anteil an Wohngemeinschaften, selbstinitiierten Kinderläden, aktiven politischen Gruppen, Sozial- und Kulturarbeitern ebenso gehört wie Frauengruppen, Öko- und Friedensgruppen. An diesen »Szenen« wird eine Problematik der Alternativkultur und der Alternativbewegung besonders deutlich: dass sich die »Gegengesellschaften« nicht nur partiell aus der »Hegemonialkultur« ausgliedern, sondern dass neue Gettoisierungen und Randgruppen entstehen.
Bei der Bewertung der Alternativkultur wird von ihren Vertretern hervorgehoben, dass die Prozesse des Umdenkens, Umwertens und Innovierens bereits jetzt ein größeres Ausmaß erreicht hätten und auf einer breiteren Basis stehen würden als in Vorläuferbewegungen. In kritischer Sicht wird darauf hingewiesen, dass die Alternativkultur trotz ihres Praxisbezugs und zum Teil berechtigter Anliegen utopischer Züge trage, was auf manchen Gebieten zu einer Verkennung vorgegebener Sachzwänge volkswirtschaftlicher, energiepolitischer oder sonstiger Art führe, und dass die Alternativkultur ihrerseits gewisse ideologische Inhalte (z. B. »Anarchismen der Bodenständigkeit«, Fortschrittsfeindlichkeit, »Verbrüderungsideale« u. a.) einschließe, die im weltanschaulichen Pluralismus einer demokratischen Gesellschaft nicht verallgemeinerungsfähig seien. Es scheint sicher zu sein, dass das Unruhe- und Protestpotenzial in den westlichen Industriegesellschaften seit Mitte der 60er-Jahre erheblich gestiegen ist und somit Alternativkultur und Alternativbewegung in sich wandelnden Formen auch weiterhin die Entwicklung der industriellen, bürokratischen und großorganisatorischen Gesellschaft begleiten werden.
M. Klostermann: Auroville. Stadt des Zukunftsmenschen (16.-23. Tsd. 1977);
Die tägl. Revolution, hg. v. R. Brun (21.-27. Tsd. 1979);
K.-W. Brand: Neue soziale Bewegungen (1982);
W. Hollstein: Die Gegengesellschaft. Alternative Lebensformen. (Neuausg., 11.-15. Tsd. 1982);
Gegenwirtschaft, hg. v. T. Christ u. a. (1982);
Die Alternativen der Alternativbewegung. Diskussion u. Kritik ihrer wirtschafts- u. gesellschaftspolit. Konzeptionen, hg. v. Inst. für marxist. Studien u. Forsch. (1984);
Anders leben. Gesch. u. Zukunft der Genossenschaftskultur, hg. v. K. Nory u. a. (1984);
Neue soziale Bewegungen in Westeuropa u. den USA, hg. v. K.-W. Brand (1985);
J. Raschke: Soziale Bewegungen (1985);
R. Schwendter: Theorie der Subkultur (41993);
G. Wirner: Soziale Phantasie. Soziale Phantasien im lebensweltl. Kontext u. die Möglichkeiten gesellschaftl. Veränderung (1993);
W. Gebhardt: Charisma als Lebensform. Zur Soziologie des alternativen Lebens (1994).
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Al|ter|na|tiv|kul|tur, die: vgl. ↑Alternativbewegung.
Universal-Lexikon. 2012.