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bürgerliche Gesellschaft
bürgerliche Gesellschaft,
 
eine vom Bürgertum getragene Gesellschaftsordnung, entstanden seit den bürgerlichen »Revolutionen« in England (1688/89), Nordamerika (1776) und Frankreich (1789); gründet sich auf die individuellen Freiheitsrechte. Sie sucht die im Grund unbegrenzt auslegbaren individuellen Freiheitsforderungen mit den Grundlagen einer auf das Allgemeine zielenden Staatsordnung zu verbinden. T. Hobbes, einer der frühen Theoretiker der bürgerlichen Gesellschaft, sah eine Ordnungsmöglichkeit in einer den Bürger freisetzenden gesellschaftlichen Sphäre und einem diese Gesellschaft schützenden starken Staat (»Leviathan«). Die Verbindung von individueller Freiheit und Autonomie mit den Möglichkeiten einer alle verpflichtenden Staatsordnung sollte auch die Theorien jüngerer Philosophen bestimmen; Denkfreiheit und Glaubensfreiheit blieben im Zeitalter der Aufklärung die Voraussetzung aller anderen Freiheitsforderungen. Damit Freiheit nicht in Willkür umschlage, wurde ihr schon bei G. W. Leibniz die Beherrschung der Triebe und Leidenschaften durch den Gebrauch der Vernunft zur Seite gestellt.
 
Zu den frühen Forderungen und Prinzipien einer bürgerlichen Gesellschaft gehörte, zumal seit den einflussreichen Theorien von J. Locke, die Fundierung der Freiheitsforderungen durch das Prinzip des Eigentums. In Zusammenhang mit individueller Arbeit und Leistung wurde der Gedanke des Eigentums zu einem Eckpfeiler der bürgerlichen Gesellschaft. Der v. a. schon von Hobbes und Locke eingeführte Vertragsgedanke wurde von J.-J. Rousseau und anderen zur Denkfigur des Gesellschaftsvertrags weitergedacht: Er ist Konkretion und Beschränkung der Freiheit zugleich; er stellt die Sozialverhältnisse auf eine neue Basis: die der Übereinstimmung von Willensentscheidungen von mindestens zwei Individuen oder zwei Gruppen. Der Vertrag - einschließlich des Ehevertrags - wurde zur Grundlage der Sozialvernunft.
 
Die Grundzüge der bürgerlichen Gesellschaft als Gesellschaft der individuellen Freiheit, des (v. a. durch Arbeit zu erwerbenden) Eigentums und des Vertrags, des Rechts und einer kritischen Öffentlichkeit waren schon ausgebildet, als sie der Liberalismus bündig zusammenfasste. Besonders die von A. Smith vorgetragene Theorie der bürgerlichen Gesellschaft als einer Marktgesellschaft gab dem sich von feudalen Mächten emanzipierenden Bürgertum ein starkes Selbstbewusstsein. Dies steigerte die sich wechselseitig verstärkende Verbindung von industrieller und bürgerlich-politischer Revolution.
 
In Deutschland wurden die Grundauffassungen der bürgerlichen Gesellschaft v. a. von G. W. F. Hegel, besonders von seiner Philosophie des Rechts (1821), stark beeinflusst. Für Hegel ist die Gesellschaft bürgerlichen Zuschnitts die höchstmögliche Form der gesellschaftlichen Entwicklung, da sie die einzige Gemeinschaftsform ist, in der der Mensch als Subjekt frei ist und in der das Besondere (Subjektive) und das Allgemeine ihre höchstmögliche Vermittlung erhalten. Das spannungsreiche Verhältnis von Subjekt und Gemeinschaft, von bürgerlicher Gesellschaft und Staat, ist grundsätzlich nicht aufhebbar, sondern auf den weiteren Stufen der geschichtlichen Entwicklung immer neu zu finden.
 
Die bürgerliche Gesellschaft als eine im Wesentlichen vom Bürgertum getragene Gesellschaftsform ist in Deutschland nie voll zur Entwicklung gekommen; sie wurde lange unterdrückt, zumal nach 1848/49, durch zum Teil spätfeudale oder neue obrigkeitlich bestimmte Herrschaftsordnungen. Das Bürgertum als klar abgrenzbare soziale Schicht ist heute nicht mehr definierbar. Doch die vom Bürgertum in langen Kämpfen durchgesetzte Gesellschaftsform mit ihren leitenden Prinzipien Eigentum, persönliche Autonomie, Vertragsfreiheit und eine Gleichheit garantierende Rechtsordnung existiert weiter und ist in den Verfassungen vieler Staaten verankert.
 
Sahen Zukunftsentwürfe der 1980er-Jahre einerseits eher die Transformation der bürgerlichen Gesellschaft in eine von Experten oder anderen Eliten geleitete Technokratie und andererseits die Aufhebung dieser Gesellschaftsform in einem wie auch immer konkretisierbaren »Sozialismus« voraus, so haben die politischen Ereignisse zum Ende der 80er-Jahre die bürgerliche Gesellschaft zu einem derzeit offensichtlich alternativlosen Grundmuster werden lassen. Als Aufgaben zeichnen sich neben der Umgestaltung in Mittel- und Osteuropa und den Demokratisierungsprozessen in der Dritten Welt künftig v. a. die Entwicklung von Möglichkeiten der Risikokontrolle, der erweiterten Chancen politischer Beteiligung des Einzelnen sowie des verbesserten Umgangs mit Minderheiten und schließlich die Ausgestaltung internationaler Beziehungen zu einer politisch verantwortlich handelnden Völkergemeinschaft ab.
 
Literatur:
 
W. H. Riehl: Die b. G. (1851, Neuausg. 1976);
 C. von Krockow: Herrschaft u. Freiheit (21982);
 E. J. Hobsbawm: Europ. Revolutionen (a. d. Engl., Neuausg. 1983);
 D. Oberndörfer: Die offene Rep. Zur Zukunft Dtl.s u. Europas (1991);
 
Perspektiven der Demokratisierung in Entwicklungsländern, hg. v. R. Tetzlaff (1992, Nachdr. 1995);
 L. Kofler: Zur Gesch. der bürgerl. Gesellschaft, 2 Bde. (Neuausg. 1992);
 P. Nolte: Gemeindebürgertum u. Liberalismus in Baden, 1830-1850 (1994);
 C. Offe: Der Tunnel am Ende des Lichts. Erkundungen der polit. Transformation im Neuen Osten (1994);
 J. Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit (Neuausg. 41995);
 K. Polanyi: The great transformation. Polit. u. ökonom. Ursprünge von Gesellschaften u. Wirtschaftssystemen (a. d. Engl., 31995).
 
Hier finden Sie in Überblicksartikeln weiterführende Informationen:
 
bürgerliche Gesellschaft: Von der Aufklärung zur Moderne
 

Universal-Lexikon. 2012.