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Literaturnobelpreis 1937: Roger Martin du Gard
Literaturnobelpreis 1937: Roger Martin du Gard
 
Der Franzose erhielt den Nobelpreis fürdie Darstellung »menschlicher Gegensätze und wesentlicher Seiten des gegenwärtigen Lebens« in der Romanserie »Les Thibault«.
 
 Biografie
 
Roger Martin du Gard, * Neuilly-sur-Seine 23. 3. 1881, ✝ Bellême (Dép. Orne) 22. 8. 1958; 1900-05 Studium der Archäologie an der École des Chartes in Paris, 1908 Veröffentlichung des ersten Romans, ab 1914 Soldat im Ersten Weltkrieg, 1922-40 achtbändiges Werk »Die Thibaults«; im Zweiten Weltkrieg Angehöriger der Résistance.
 
 Würdigung der preisgekrönten Leistung
 
Martin du Gards Werk knüpft an die Tradition der großen französischen Romanschriftsteller der Jahrhundertwende an, die nicht mehr mit einem Nobelpreis bedacht werden konnten, in erster Linie Honoré de Balzac und Gustave Flaubert. Warum Marcel Proust und Émile Zola nicht als Vertreter dieser Tradition geehrt wurden, ist bis heute Gegenstand vieler Diskussionen.
 
 Roman fleuve
 
Das Nobelkomitee befand in erster Linie Martin du Gards Werk »Die Thibaults« für preiswürdig. Per Hallström von der Schwedischen Akademie äußerte Vorbehalte gegen Martin du Gard und die Gattung des Romans, den so genannten »Roman fleuve«. Bei diesem handle es sich um »eine Form der Dichtung, die sich wenig um irgendeine Komposition kümmert, sondern wie ein Strom sich durch weite Gebiete ergießt und alles spiegelt, was in seinem Weg liegt«. Ein Fürsprecher Martin du Gards fand sich hingegen im schwedischen Schriftsteller und Ständigen Sekretär der Schwedischen Akademie, Anders Österling, der Martin du Gard für den »vielleicht besten Gestalter des breiten und furchtlosen französischen Realismus, der auf Flaubert und Goncourt zurückgeht«, hielt.
 
 Ein hoher Anspruch und ein großes Vorbild
 
Roger Martin du Gard wurde als Sohn eines Rechtsanwalts geboren. Seine literarische Berufung fühlte er schon sehr früh. Im Alter von neun Jahren zeigte ihm ein Schulfreund ein Heft mit selbstgeschriebenen klassischen Tragödien. Dadurch wurde er veranlasst, selbst zur Feder zu greifen. Im Jahr 1900 schloss er seine Schulzeit ab und schrieb sich, eher um dem Militärdienst zu entgehen als aus echtem Interesse, für das Studium der Archäologie in Paris an der École des Chartes ein, das er 1905 beendete. Dank seiner wohlhabenden Herkunft konnte sich Martin du Gard ausschließlich seinem Metier widmen. Er bewohnte zumeist abgelegene Landsitze, wo er historische Ereignisse, die oft den Hintergrund seiner Romane bilden, intensiv studierte. Sein großes Vorbild war Leo Tolstoi, vor allem dessen Werk »Krieg und Frieden«. Martin du Gards großer Ehrgeiz und sein enormer Anspruch führten dazu, dass er mehrere seiner Werke unvollendet ließ.
 
Sein erster bedeutender Roman, »Jean Barois«, erschien im Jahr 1913 bei Gaston Gallimard, einem früheren Schulfreund Martin du Gards. Zuvor war das ungewöhnliche Manuskript vom Verleger Bernard Grasset mit der Begründung abgelehnt worden, »das ist kein Roman, sondern eine Akte«. Auch Gallimard zweifelte und konsultierte zuerst André Gide (Nobelpreis 1947). Dieser antwortete mit dem berühmt gewordenen Telegramm: »Außerordentlich bemerkenswertes Manuskript, sofort veröffentlichen!« Der Roman entwickelte sich schnell zum Bestseller und Martin du Gard wurde in den Kreis der berühmten Schriftsteller um die »Neue Französische Zeitschrift« aufgenommen, dem auch Gide angehörte. Mit ihm verband Martin du Gard eine lange Freundschaft. »Jean Barois«, für den er drei Jahre lang recherchiert hatte und mit dem er den »roman dialogué«, eine Erzählung in Dialogform unter Weglassung des allwissenden Erzählers in der dritten Person, perfektionierte, ist neben der Schilderung der intellektuellen Geschehnisse im Frankreich der Jahrhundertwende eine der umfangreichsten und genausten Dokumentationen über die Dreyfus-Affäre. Martin du Gard zeigt anhand seines jungen Protagonisten beispielhaft die Ketzerei der Moderne auf. Jean Barois, ein Arzt und Wissenschaftler, verliert durch seine Beschäftigung mit der Evolutionstheorie den Glauben an Gott. Diese Umkehr veranlasst ihn, gegen kirchliche Bevormundung einzutreten und in der Dreyfus-Affäre die Position Zolas zu unterstützen. Am Ende seines Lebens findet er im Angesicht des Todes seinen Glauben wieder.
 
 Die Thibaults
 
Martin du Gards Hauptwerk ist zweifelsohne sein achtbändiger Romanzyklus »Die Thibaults«, für den er den Nobelpreis erhielt. Die ersten sechs Bände schildern das Leben und den Auflösungsprozess zweier französischer Familien etwa zehn Jahre vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs bis in die vierte Generation hinein. Dieser Prozess wird besonders anhand der zwei sehr unterschiedlichen Brüder, Antoine und Jacques, und deren Konflikt mit ihrem egoistischen, bourgeoisen, autoritären Vater veranschaulicht. Antoine, der Ältere, ist ein arbeitsamer, vorsichtiger, konservativer Arzt, der völlig in seiner Arbeit aufgeht und nicht an eine Veränderung des Menschen glaubt, während sein jüngerer Bruder Jacques, der Held des Romans, ein unangepasster Idealist ist. Als Jacques' Freundschaft mit einem Schulkameraden erotische Züge annimmt und die beiden aufgrund eines Briefs denunziert werden, flieht Jacques mit seinem Freund. Die Außenwelt, die ihm feindlich und grausam erscheint, lässt sich nicht mit seinen Idealen verbinden. Der autoritäre Vater reagiert auf den Skandal mit Härte und bestraft Jacques mit Einzelhaft in einer Erziehungsanstalt. Doch dort verfestigt sich nur sein stolzer Charakter. Nach einem hervorragenden Schulabschluss wird er von einer Eliteuniversität angenommen, aber für ihn bedeutet eine offizielle Karriere nur Nichtigkeit und Leere, und so entflieht er nach Afrika, wo ihn sein Bruder Antoine nach langer Zeit aufspürt und an das Sterbebett des Vaters führt. Doch es ist zu spät, der alte Mann erkennt ihn nicht mehr. Jacques selbst stirbt im Ersten Weltkrieg.
 
Martin du Gard sah in den unterschiedlichen Charakteren der beiden Brüder die unterschiedlichen Strömungen seines eigenen Charakters. Er bekam viele Zuschriften von jungen Männern, die sich mit Jacques identifizierten, doch er selbst fällte ein gnadenloses Urteil über seine Romanfigur: »Er lebte wie ein Idiot und starb wie ein Idiot.«
 
1931 bewegte ihn ein Autounfall dazu, seine Pläne für die letzten Teile von »Die Thibaults« zu überdenken. Die zuvor psychologisch konzipierte Struktur des Zyklus wich einer historischen Sichtweise. Die beiden letzten Bände, »Sommer 1914« und »Epilog«, schildern die Ereignisse und die gescheiterten diplomatischen Verhandlungen, die zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs führten.
 
1941 begann Martin du Gard die Arbeit an seinem letzten Werk, »Le lieutenant-colonel de Maumort« (französisch; Der Oberstleutnant von Maumort). Es blieb unvollendet und wurde ebenso wie sein Tagebuch posthum veröffentlicht. In seinen Romanen behandelte Martin du Gard Themen, die auch heute nichts von ihrer Aktualität eingebüßt haben: die Zukunft Europas, Homosexualität, Selbstmord und Inzest. Seine Bekanntheit und Bedeutung dauern jedoch nur in seinem Heimatland fort.
 
B. Rehbein

Universal-Lexikon. 2012.