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Abstammungslehre
Ạb|stam|mungs|leh|re 〈f. 19Theorie von der Entstehung u. Entwicklung des Lebens; Sy Deszendenztheorie, Evolutionstheorie (1)

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Ạb|stam|mungs|leh|re, die (Biol.):
Lehre von der Abstammung aller die Erde bewohnenden Organismen von niederen Arten durch allmähliche Umbildung.

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I
Abstammungslehre,
 
Deszendẹnzlehre, Evolutionslehre, Phylogenetik, zentrale Theorie der Biologie von der Entwicklung der Organismen im Lauf der Erdgeschichte; die Abstammungslehre vereinigte erstmals Botanik und Zoologie zur Biologie als einer Gesamtwissenschaft vom Lebendigen und erklärt auch die Menschwerdung (Hominisation). Die kausale Abstammungslehre ist bis zur Kenntnis der molekularen Struktur der Vererbungssubstanz vorgedrungen; auch die Grenzen zur anorganischen Natur erscheinen klärbar. Der Evolutionsbegriff ist seither nicht nur Gegenstand wissenschaftlichen, sondern auch weltanschauliche Auseinandersetzungen gewesen.
 
 Die Entstehung des Lebens
 
Die Vorgänge unmittelbar an der Schwelle des Lebens (Biogenese) liegen etwa 3,5 Mrd. Jahre zurück. Im Übergang vom Abiotikum zum Archäozoikum (Archaikum) entstand aus Unbelebtem das Leben, aus anorganischem das organische Material. Einsichten in diesen Prozess der Urzeugung erhält man zur Zeit aus Experimenten, in denen physikalische und chemische Umweltbedingungen, wie sie vor 3,5 Mrd. Jahren auf der Erde herrschten, nachgeahmt werden. In chemischen Reaktionen entstehen Bausteinmoleküle, die für die Zusammensetzung hochmolekularer, für die Lebewesen charakteristische Stoffe entscheidend sind. Grundlegend für die Entstehung von Bausteinmolekülen und deren Zusammenfügung zu organischen Großmolekülen waren die (in Simulationsexperimenten reproduzierbaren) Umweltbedingungen, d. h., bei dem Gesamtprozess der Biogenese hat die Entwicklung der Erdoberfläche und der Atmosphäre eine grundsätzliche Rolle gespielt. Obwohl bei der Entstehung der Bausteinmoleküle noch keine Selektion im Darwinschen Sinn angenommen werden kann, spricht man allgemein von chemischer Evolution, weil diese Prozesse lückenlos in die Entstehung des Lebens überleiten und damit in jenen Entwicklungsschritt, in dem aus Bausteinmolekülen bereits Eiweiße, Kohlenhydrate und v. a. Nukleinsäuren gebildet worden sind; ein Vorgang, bei dem, wie in Experimenten zur Selbstreproduktion von RNA-Molekülen gezeigt werden konnte, Auslese und Evolution ebenso stattfinden, wie bei ganzen Zellen oder biologischen Arten; somit kann auf dieser Stufe der Lebensentstehung ein Evolutionsprozess im Sinn Darwins angenommen werden.
 
Da die Entstehung des Lebens auf physikalisch-chemische Gesetzmäßigkeiten und auf das mehr oder weniger dem Zufall überlassene Zusammentreffen von Faktoren reduziert wird, entstehen in diesem Erklärungsbereich Konflikte mit dem Schöpfungsglauben vieler Religionen. So gibt es Anschauungen, die die dargelegte Sicht der Biologie für unvereinbar mit religiösen Schöpfungsberichten halten, neben der Überzeugung, dass Naturgesetze und Zufall von der Vorsehung des allmächtigen Gottes umfangen sind und durch ihn gelenkt werden. Wenn auch eine Biogenese unter den heutigen natürlichen Zuständen nicht mehr möglich ist, haben die chemisch-physikalischen Abstammungstheorien der Organismenwelt jedoch einen - aufgrund der wachsenden Erkenntnisse auf diesem Forschungsgebiet - steigenden Erklärungswert.
 
Das gilt auch für die grundsätzliche Frage: Was ist Leben? Antworten hierauf geben Untersuchungen der niedersten Organismen. Die vergleichende Betrachtung niederer Organismen führt näher zu dem theoretischen Ansatz, wie der Stoffwechsel entstand und wie er in einer aufsteigenden Reihe vervollkommnet wurde. Wichtige Einsichten vermittelten die Untersuchungen von Zellen mit und ohne Kern. Auch hier lässt sich die Kausalkette der Organismen bis auf die primitivsten Lebensformen zurückführen und legt damit auch eine Entstehung des Lebens aus anorganischem Material nahe.
 
 Aspekte der Hominidenevolution
 
Neben den grundlegenden Problemen der Entstehung des Lebens werden zunehmend die Fragen der auf die biologische Evolution folgenden psychische Evolution untersucht, um ein umfassendes Weltbild auf der Grundlage naturwissenschaftlicher und geisteswissenschaftlicher Erkenntnisse zu gewinnen. Die Anthropogenese wird dabei unter zwei Aspekten betrachtet: körperliche Veränderungen (Bioevolution) und geistige Entwicklung (Psychoevolution). Diese geschieht sowohl unter Berücksichtigung der Fossildokumentation als auch der Analyse der Verhaltensweisen von den einfachsten tierischen Organismen bis hin zum Menschen und der Entstehung des Bewusstseins. Mit den ältesten bekannten sicheren Hominiden im afrikanischen Raum kann belegt werden, dass die frühe Hominidenevolution auf Afrika beschränkt war. Im Zusammenhang mit den zahlreichen, morphologisch variierenden Fossilien von ostafrikanischen Fundplätzen (besonders Olduvai, Koobi Fora) sowie aus Äthiopien (Omo) und aufgrund verbesserter Methoden der Altersbestimmung zur Datierung kann im pliopleistozänen Übergang mit einer verstärkten Artbildung (Speziation) gerechnet werden.
 
Jene Art, die sich am ehesten aus dem basalen Australopithecinen-Stock in die Entwicklungslinie zu Homo erectus und zu Homo sapiens einfügt, wird als Homo habilis bezeichnet und ist in Ostafrika gegenüber dem Australopithecus-Formenkreis durch deutliche progressive Merkmale (u. a. Hirnevolution) abgegrenzt.
 
Bezüglich der Evolution psychischer Prozesse, besonders auch der Entstehung des Bewusstseins, hat die vergleichende Verhaltensforschung gut begründete Evolutionsmodelle erarbeitet, sodass der Dualismus Leib/Seele aufgelöst wurde und die psychische Evolution aufgrund der Integration genetischer, physiologischer und ethologischer Theorien erklärt werden kann. Der Erkenntnisgewinn auf diesem Feld der Abstammungslehre erlaubt Hinweise zur Entstehung der Vernunft und des Bewusstseins und hat die Grundlagen für eine evolutionäre Erkenntnistheorie geschaffen.
 
 Geschichte
 
Die erste Überlieferung entwicklungsgeschichtlichen Denkens stammt aus dem 6. Jahrhundert v. Chr. von Anaximander, der annahm, dass die Menschen aus Fischen entstanden seien. Nach Empedokles entstanden die Lebewesen durch Anziehung und nachfolgende Vereinigung einzelner Organe; hierbei wird ein Selektionsprinzip insofern erkennbar, als die bei der Vereinigung entstehenden lebensuntüchtigen Individuen zugrunde gehen. Demokrit beschrieb die zufallsbedingte Entstehung höherer Formen aus einem Urschleim. Aristoteles nahm eine beständige Veränderung von niedrigen zu höheren Organismen an, der als Ursache eine »treibende« Kraft als universelles Ordnungsprinzip zugrunde liege. Entwicklungsgedanken lebten in der Folgezeit zum Teil weiter (Lukrez). Im Mittelalter war wegen der Annahme der Artkonstanz kein Raum für evolutive Vorstellungen. Auch C. von Linné (18. Jahrhundert) vertrat die Artkonstanz bis zur äußersten Konsequenz, ebenso wie die idealistische Morphologie (E. G. Saint-Hilaire; 18./19. Jahrhundert). Um die paläontologische Ergebnisse mit dem statischen Weltbild in Einklang zu bringen, entwarf G. Cuvier etwa zur gleichen Zeit die Katastrophentheorie. Mithilfe des Aktualismus widerlegten K. E. A. von Hoff und C. Lyell im 19. Jahrhundert deren Gültigkeit. J. Lamarcks Deszendenztheorie, die die Wandelbarkeit der Arten durch einen den Organismen eigenen Vervollkommnungstrieb und die Vererbung erworbener Eigenschaften erklärte, brachte die Abkehr vom statischen Entstehungsprinzip, die bereits von E. Darwin, dem Großvater von C. Darwin, gefordert worden war. C. Darwin wies aufgrund des Vergleichs von morphologischen, anatomischen, embryologischen, haustierkundlichen, ethologischen u. a. biologischen Fakten nach, dass die Entstehung der Lebewesen ein historischer Prozess ist. Er nannte als Kausalerklärungen für die Evolution der Organismen, dass eine erbliche Variabilität bei den Individuen einer Art besteht, und dass mehr Nachkommen erzeugt werden, als zur Arterhaltung nötig sind. Durch den Mechanismus der natürlichen Auslese (Selektion) werden jene erbliche Varianten bevorzugt weitergegeben, die für die Arterhaltung am besten wirksam sind. Die Ursachen der genetischen Variabilität (Mutation und Rekombination) wurden erst mit Wiederentdeckung der Mendelschen Regeln Anfang des 20. Jahrhunderts nachgewiesen.
 
Auf der Mutationstheorie von H. de Vries fußend, bauten R. A. Fisher, J. B. S. Haldane, S. Wright u. a. die Populationsgenetik auf, die nicht das Individuum, sondern die Population mit ihrem vielgestaltigen Allelenbestand als Evolutionseinheit ansieht. T. G. Dobzhansky, G. Heberer, E. Mayr, B. Rensch und G. G. Simpson entwickelten eine Synthese aus darwinistischer Theorie (neodarwinistische Theorie nach A.Weismann) und genetische Evolutionstheorie, die von J. Huxley als synthetische Evolutionstheorie beschrieben wurde und besonders durch die neueren Ergebnisse der Molekulargenetik, Biochemie u. a. biologischer Forschungsrichtungen bestätigt wurde.
 
Innerhalb der Abstammungslehre sind zwei Arbeitsrichtungen zu unterscheiden: die historische Abstammungslehre, die die formalen stammesgeschichtlichen Abläufe erforscht, und die experimentelle Abstammungslehre, die die Kausalität der aktuellen Phylogenie untersucht. Hierbei geht die Naturforschung das kausale Problem nicht von einer festgelegten Theorie aus an, sondern bemüht sich, aus der Natur selbst Antworten zu gewinnen und diese mit den Ergebnissen der experimentellen Biologie, besonders der Genetik, in Einklang zu bringen. In der Feststellung, dass sich die Organismen in der Generationenfolge durch sukzessive Änderungen ihrer Genotypen wandeln, d. h., dass alle Lebewesen im Lauf der Erdgeschichte in direkter Zeugungskette untereinander verbunden sind, hat die Abstammungslehre auch für den Menschen Gültigkeit (Hominisation). Nach den Forschungsergebnissen der letzten Jahre aufgrund experimenteller Untersuchungen und genetische Forschungen war es der Biologie möglich, die kausalen Grundlagen der Evolution, soweit diese empirisch erfassbar sind, zu klären. Evolutions- und Populationsgenetik haben, aufbauend auf der klassischen Mutations-Selektions-Theorie von C. Darwin, eine Theorie von großer Integrationskraft erarbeitet und mannigfaltige Beweise erbracht.
 
 
Weitere Informationen zu diesem Thema finden Sie v. a. auch in den folgenden Artikeln:
 
Darwinismus · Entwicklung · Paläontologie
 
Literatur:
 
E. Haeckel: Die Naturanschauung von Darwin, Goethe und Lamarck (1882);
 H. de Fries: Die Mutationstheorie, 2 Bde. (1901-03);
 C. Metz: Theorien der Stammesgeschichte (1926);
 T. G. Dobzhansky: Die Entwicklung zum Menschen (a. d. Engl., 1958);
 
Die Evolution der Organismen, hg. v. G. Heberer, 3 in 4 Bdn. (31967-74);
 B. Rensch: Homo sapiens. Vom Tier zum Halbgott (31970);
 B. Rensch: Neuere Probleme der A. (31972);
 R. Riedl: Die Ordnung des Lebendigen (1975);
 H. v. Ditfurth: Der Geist fiel nicht vom Himmel. Die Evolution des Bewußtseins (1976);
 G. Osche: Evolution. Grundll., Erkenntnisse, Entwicklungen der A. (101979);
 G. Heberer: Allg. A., neu bearb. v. B. Zepernick (21980);
 Ernst Mayr: Die Entwicklung der biolog. Gedankenwelt. Vielfalt, Evolution u. Vererbung (a. d. Engl., 1984);
 R. Riedl: Biologie der Erkenntnis. Die stammesgeschichtl. Grundlagen der Vernunft. Mitarb. R. Kaspar u. S. Riedl (Neuausg. 1988);
 M. Eigen u. R. Winkler: Das Spiel. Naturgesetze steuern den Zufall (91990);
 W. Henke u. H. Rothe: Paläoanthropologie (1994);
 G. Vollmer: Evolutionäre Erkenntnistheorie. Angeborene Erkenntnisstrukturen im Kontext von Biologie, Psychologie, Linguistik, Philosophie u. Wiss.-Theorie (61994).
 
Hier finden Sie in Überblicksartikeln weiterführende Informationen:
 
 
Abstammungslehre: Kampf ums Dasein
 
Ursprung der Menschheit
 
II
Abstammungslehre,
 
Deszendenztheorie.
 

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Ạb|stam|mungs|leh|re, die (Biol.): Lehre von der Abstammung aller die Erde bewohnenden Organismen von niederen Arten durch allmähliche Umbildung.

Universal-Lexikon. 2012.