Justinian
Kaiser Justinian (527-65) regierte knapp vier Jahrzehnte. Länger als er herrschte von seinen Vorgängern nur Augustus, der Schöpfer des römischen Kaisertums. Wie der erste Princeps prägte Justinian nicht nur sein eigenes Zeitalter, er bestimmte vielmehr auch die künftige Entwicklung des Römischen Reiches maßgeblich. Seine Tätigkeit auf dem Gebiet der Rechtskodifikation beeinflusste die Rechtsentwicklung bis in die Moderne.
Das Imperium Romanum in seinen alten Grenzen wiederherzustellen und die unter seinen Vorgängern verlorenen Reichsteile zurückzuerobern, war ein Hauptziel der Reichs- und Außenpolitik Justinians. Den ersten Schlag führte er gegen das Vandalenreich in Afrika, das sein Feldherr Belisar in den Jahren 534/35 zerschlug. Der danach mit den Ostgoten in Italien aufgenommene Kampf war dagegen schwierig und währte von 535 an beinahe zwanzig Jahre, bis er 553 mit der Vernichtung der Ostgoten endete. Zwei Jahre zuvor hatte Justinian die Südspitze Spaniens von den Westgoten zurückgewonnen. Das übrige Spanien blieb unter germanischer Herrschaft, ebenso Gallien.
Immerhin hatte Justinian die römische Herrschaft im Mittelmeergebiet wiederhergestellt. Die meisten dieser Rückeroberungen gingen allerdings bis auf Exklaven um Ravenna, Rom und Karthago schon bald wieder verloren. Überdies hatten die Kriege im Westen Justinian gezwungen, Truppen von der Donau sowie von der persischen Grenze abzuziehen. Hunnen, Bulgaren, Awaren und Slawen nutzten diese Schwäche zu Einfällen über die Donau; die Sassaniden konnte Justinian nur durch enorme Tributzahlungen von gefährlichen Aggressionen abhalten. Justinian scheiterte mit seiner Reichspolitik; seine Nachfolger, mit denen die eigentliche byzantinische Geschichte beginnt, gaben diese Politik auf und beschränkten sich auf den griechischen Osten.
Eine zweite große Aufgabe, der sich Justinian von Beginn seiner Regierung mit aller Energie widmete, war die systematische Sammlung der gesamten römischen Rechtsüberlieferung. Er führte sie mithilfe hervorragender Juristen in kurzer Zeit durch. Bereits im Jahre 529 wurde der »Codex Iustinianus« veröffentlicht, der die Kaisergesetze der Vorgänger Justinians enthielt. 533 folgten die 50 Bücher »Digesten« mit Auszügen aus 2000 Schriften römischer Juristen von der republikanischen bis in die severische Zeit. Hinzu kamen noch die »Novellen«, das heißt die Gesetze Justinians und seiner Nachfolger.
Dieses große Gesetzeswerk zielte praktisch auf die Stärkung eines zentralistischen Reichsregiments ab und ist wie der Versuch der Rückeroberung (Rekuperation) des Westens Ausdruck der von Justinian betriebenen Restaurationspolitik. Das Gesetzeswerk Justinians, für das sich im Mittelalter die Bezeichnung »Corpus Iuris Civilis« einbürgerte, gilt heute als wichtigster Text der europäischen Rechtsgeschichte.
II
Justinian,
griechisch Iustiniạnos, lateinisch Iustinianus, byzantinischer Kaiser:
1) Justinian I., der Große, ursprünglich Flavius Petrus Sabbatius, Kaiser (seit 527), * Tauresium (bei Skopje) 482, ✝ Konstantinopel 11. 11. 565; Neffe Kaiser Justins I. (518-527), der ihn unter dem Adoptivnamen Justinian förderte, sich auf ihn als Ratgeber stützte und ihn am 1. 4. 527 zum Mitregenten und Augustus erhob. Mit seiner gleichzeitig zur Augusta erhobenen Gemahlin Theodora führte Justinian bis zu deren Tod 548 eine Doppelherrschaft. Ziel der kaiserlichen Politik war es, die Orthodoxie und das römische Reichsgebiet als christliche Ökumene wiederherzustellen. Während Justinian im Osten den Besitzstand des Oströmischen Reiches im Wesentlichen halten konnte, suchte er im Westen das an die (arianischen) Germanen verlorene Weströmische Reich wieder herzurichten. Die Kriegführung übertrug er seinen Feldherren, v. a. Belisar und Narses. Durch die Bezwingung der Wandalen in Nordafrika (533/534), Sardinien und Korsika, der Ostgoten in Italien (535-553/554) und durch die Besetzung südöstlicher Teile des von den Westgoten beherrschten Spanien (554) gewannen sie für das Reich Gebiete, die es nach Justinian bald wieder verlor. Von den Persern wie von den Hunnen erkaufte sich Justinian den Frieden durch Tributleistungen. Dank Theodoras Energie siegte er im Nikaaufstand (532) mithilfe seiner Feldherren über die Demen (Demos). Mit vermehrter Autorität trat er nun auch als Oberherr der Kirche auf. Justinian bekämpfte Häretiker und Heiden (Schließung der Athener Philosophenschule 529), bemühte sich aber um einen Ausgleich mit den Monophysiten, zu denen weite Teile der Reichsbevölkerung im Osten zählten. Den religiösen Separatismus im Westen im Dreikapitelstreit beendete er durch Einberufung des 2. Konzils von Konstantinopel (553).
Ein Hauptverdienst Justinians ist die mithilfe des Juristen Tribonianus durchgeführte Kodifikation des römischen Rechts (Corpus Iuris Civilis). Als Bauherr ließ er u. a. die 532 zerstörte Hagia Sophia neu errichten. Justinians Regierungszeit und Bautätigkeit beschrieb Prokopios von Kaisareia.
W. Schubart: J. u. Theodora (1943, Nachdr. 1984);
B. Rubin: Das Zeitalter J.s, Bd. 1 (1960);
R. Haase: Unterss. zur Verw. des spätröm. Reiches unter Kaiser J. I. (527 bis 565) (1994).
Hier finden Sie in Überblicksartikeln weiterführende Informationen:
Konstantinopel: Das zweite Rom im Osten
2) Justinian II. Rhinọtmetos [griechisch »der mit der abgeschnittenen Nase«], Kaiser (685-695 und 705-711), * 669, ✝ (ermordet) Sinope (heute Sinop) Dezember 711; Sohn Konstantins IV. (668-685); kämpfte erfolgreich gegen die Slawen auf dem Balkan, die er nach Nordwestkleinasien umsiedelte. 691/92 verlor er die byzantinischen Besitzungen in Armenien an die Araber. Innen- und kirchenpolitisch bedeutsam waren der Ausbau der Themenverfassung (Thema) und die Einberufung der Trullanische Synode von 691/692. Nach seiner Absetzung (695), seiner körperlichen Verstümmelung und Verbannung auf die Krim war Justinians zweite Regierungszeit (seit seiner Rückkehr nach Konstantinopel mit bulgarischer Hilfe 705) von unstillbarer Rachsucht geprägt. Seine Schreckensherrschaft führte zu einer Revolte der kaiserlichen Streitkräfte, der Justinian und sein Sohn Tiberios zum Opfer fielen.
Universal-Lexikon. 2012.