Literaturnobelpreis 1944: Johannes Vilhelm Jensen
Der dänische Schriftsteller erhielt den Preis für die seltene Kraft und Fruchtbarkeit seiner Dichterfantasie, verbunden mit umfassendem Intellekt und kühner schöpferischer Stilkunst.
Johannes Vilhelm Jensen, * Farsø (Jütland) 20. 1. 1873, ✝ Kopenhagen 25. 11. 1950; ab 1898 journalistische Tätigkeiten, 1898 erster Band »Himmerlandsgeschichten« (Band II und III 1904 und 1910), 1900 Roman »Der Fall des Königs«, 1901 Essay »Die gotische Renaissance«, 1902/03 Weltreise, 1907 erster Band der »Mythen« (bis 1944 insgesamt neun Bände), 1908-22 Romanserie »Die lange Reise«.
Würdigung der preisgekrönten Leistung
Als Jensen 1944 der Literaturnobelpreis zuerkannt wurde — er konnte erst im darauf folgenden Jahr die Auszeichnung persönlich entgegennehmen — da hob Anders Österling, der ständige Sekretär der Schwedischen Akademie, bei der Präsentation des Schriftstellers als dessen bedeutendste Leistung die sechsbändige Romanserie »Die lange Reise« (1908-22) hervor und schloss sich dabei ganz der Meinung von Per Hallström, dem Vorsitzenden des Nobelkomitees, an.
Literarischer Darwinismus
In diesen sechs Romanen entwickelte Jensen seine große Idee, die er konsequent verfolgte: Es war die Vervollkommnung des menschlichen Geschlechts durch die darwinistische Theorie der natürlichen Auswahl und der fortschreitenden Entwicklung. Geschildert wurde die Entwicklung des Menschen vom seelenlosen Herdentier hin zu einer primitiven, dann zu einer progressiven Zivilisation und zur Begründung der nordischen Rasse. Sein zentrales Thema war die universelle Sendung der germanisch-skandinavischen Völker. Die Serie beginnt damit, dass die in der Nähe eines Vulkans lebenden Menschen nur dumpfe Verehrer eines Feuergotts sind, bis endlich eine Prometheus Figur, der erste Mensch mit Geist und Willen, das Feuer erobert und es den Menschen bringt. Der zweite Band erzählt, wie sich ein Mensch den wegen des kälter werdenden Klimas nach Süden strömenden Massen entgegensetzt und nach Norden zieht, wo er eine neue Zivilisation gründet und zum Ahnherrn der nordischen Rasse wird. Die nachfolgenden Bände führen über den Zug der Kimbern gegen Rom und die Fahrten der Wikinger hin zu Christoph Kolumbus, dem der Autor eine lombardische, und das heißt für ihn, eine nordische Abstammung zuschreibt. Die Entwicklung kann bei Jensen immer nur von Einzelnen, den Führerpersönlichkeiten vorangetrieben werden. Die rassistische Auffassung, die hier deutlich unter anderem auch dadurch zu Tage tritt, dass der Norden als gesund, der Süden als verweichlicht dargestellt wird, rückt Jensen in bedenkliche Nähe zum Faschismus, zumal sie in Jensens Gedankenwelt keineswegs Episode geblieben ist.
Schon 1901 hatte er seine als Programmschrift zu verstehende Essaysammlung »Die gotische Renaissance« herausgebracht. 1898 war er als Journalist während des spanisch-amerikanischen Kolonialkrieges um Kuba nach Spanien, 1900 zur Weltausstellung nach Paris geschickt worden. Seine leicht redigierten Zeitungsberichte aus diesen Jahren bilden den Hauptbestandteil dieses Buchs. Die gotische (das heißt germanische) Renaissance ist für ihn eine heidnische Wiedergeburt des Germanischen, von der er meint, dass »sie von England ausging, aber auch auf Amerika und dann Deutschland und Skandinavien, alle blonden Völker, zutrifft.« In seiner germanomanen Einstellung macht er Front gegen das Romanische, das spanische Volk etwa findet er »porös und vom Christentum ausgehöhlt, von Bazillen aufgefressen, von einer falschen Lebenseinstellung verdorben.« Zugleich huldigt er den Maschinen, in ihnen sieht er den Fortschritt verkörpert. In nahezu lyrischen Tönen preist er die moderne Stadt — in all diesem durchaus dem Maschinenkult der italienischen Futuristen vergleichbar.
Maskuline Heldenverehrung, imperialistischer Gestus, Glaube an die Überlegenheit der weißen Rasse sind weitere Stichworte zur Charakterisierung dieses Buchs. Statt des in der Literatur der 1890er-Jahre vorherrschenden Ichgefühls und der eingehenden Seelenbeschreibungen tritt nun bei Jensen die Verliebtheit ins Gesunde, Schöne, Starke auf den Plan, vor dem Kranken ekelt es ihn, wie aus den wenig geschmackvollen Worten über Friedrich Nietzsche hervorgeht: »Nun sitzt er ausgelöscht wie eine Leiche in seinem Krankenstuhl, von sich selbst zerschmettert, weil er sich nicht vor dem Ganzen, das im Recht ist, beugen wollte, weil er seinen Blick nicht hinaus auf die Wirklichkeit dieser Welt richten wollte, die besser ist als er.«
Später hat Jensen von »Die gotische Renaissance« Abstand genommen, es gewissermaßen aus seinem Werk gestrichen und einen Nachdruck verboten — ein solcher erschien erst im Jahr 2000 —, dennoch blieb er den frühen Überzeugungen treu. In seiner anlässlich der Nobelpreisverleihung verfassten autobiografischen Skizze bekannte er sich ausdrücklich zu Darwins Evolutionsgedanken. Die Philosophie der Evolution habe er in die Literatur übertragen und seine Leser inspirieren wollen, in evolutionären Bahnen zu denken, denn der Darwinismus sei Ende des 19. Jahrhunderts stark verdreht worden. Weiterhin habe er der dänischen Literatur die englische und amerikanische Vitalität zuführen wollen — sie sollte an die Stelle »der damals vorherrschenden Richtung des dekadenten Gallizismus« treten. Seine Gedichte betrachtete Jensen als die Summe seines Schaffens, sie waren gedacht als Reaktion auf den Stil der Zeit, »der das zersetzende Kennzeichen Baudelaires« trug. Mit den eigenen Gedichten sollte die Lyrik wieder »den einfachen Stil und gesunde Themen« zurückerhalten.
Rassistischer Kulturphilosoph
Mit seiner Ideologie von der Überlegenheit des Germanisch-Nordischen, die er nicht nur in den genannten Werken, sondern auch in vielen Essays vertrat, wollte er seine Ambition als führender Kulturphilosoph der »nordischen Rasse« untermauern. In seinem Heimatland hat er damit eine gewisse Resonanz, aber keine nachhaltige Wirkung erzielt, ins Deutsche ist nur wenig übersetzt worden. Übrigens war er schon vor 1944 mehrfach als Kandidat für den Nobelpreis genannt worden, aber bei seiner ersten Nominierung 1925 (»Die lange Reise« war abgeschlossen) erkannte man zwar die dichterische Fantasie, aber es fehlten ihm ästhetischer Geschmack und Humanität — sie waren erst 20 Jahre später erkennbar geworden.
Das einzige Werk von Format — vom Preiskomitee übersehen
In keiner Äußerung zum Nobelpreis, weder in der offiziellen Lobrede noch beim Autor selbst, wird der Roman genannt, der heute noch gelesen wird: »Der Fall des Königs« (1900). Dieser historische Roman, der im 16. Jahrhundert spielt, begründete den modernen Roman mit: Die epische Einheit ist aufgelockert, der Erzählfaden gebrochen, der Text mit vielen lyrischen Passagen durchsetzt, und besonders auffällig ist das gänzliche Fehlen eines Entwicklungs- und Fortschrittsoptimismus sowie der Blick auf das Ganze. Der abgesetzte dänische König Christian II., der würdelos das Gefängnis erträgt, und der gescheiterte Student und Gefolgsmann Mikkel, der nur lebt, wenn er hasst, sindbeide von übermächtigem Zweifel angenagt, ihr Schicksal ist ebenso zufällig wie sinnlos. Seiner engeren Heimat Jütland, der Gegend seiner Kindheit, hat Jensen in seinen Geschichten von den Himmerlandleuten ein bleibendes Monument gesetzt, das auch heute noch mit Gewinn betrachtet werden kann. Über den Teil des Werks, der 1944 so stark in den Vordergrund gestellt wurde, ist die Zeit dagegen hinweggegangen. Der Nobelpreis 1944 war an ein nationales Genie ohne internationales Format verliehen worden.
H. Uecker
Universal-Lexikon. 2012.