Literaturnobelpreis 1932: John Galsworthy
Der Brite erhielt den Nobelpreis für Literatur für seine »vornehme Schilderungskunst, die in »Die Forsyte Saga« ihren höchsten Ausdruck findet«.
John Galsworthy, * Kingston Hill (London) 14. 8. 1867,✝ Hampstead (London) 31. 1. 1933; Studium am New College der Oxford University, 1889 Abschluss des Jurastudiums, ausgedehnte Reisen auf alle Kontinente, 1897 Veröffentlichung des ersten Buchs, 1921 Gründung des Pen Clubs, des internationalen Schriftstellerverbands, 1929 ausgezeichnet mit dem Order of Merit of England.
Würdigung der preisgekrönten Leistung
Der Romanschriftsteller habe in der »Forsyte Saga« ein Bild seiner Zeit gezeigt und über drei Generationen hinweg verfolgt und dabei mit großem Erfolg einen hinsichtlich des Umfangs und der Tiefe äußerst schwierigen Stoff bewältigt, so das Preiskomitee. Man beglückwünschte Galsworthy zudem für seine Fähigkeit, hinter den Geschichten der einzelnen Personen die verborgene Struktur der historischen Ereignisse, die Veränderung und die allgemeine Auflösung des viktorianischen Zeitalters zu enthüllen.
Vom Weltenbummler zum Sozialkritiker
Als einziger Sohn eines wohlhabenden Rechtsanwalts und Vorsitzenden eines Londoner Unternehmens, erzogen an den besten Institutionen, war die Schriftstellerkarriere für John Galsworthy nicht gerade vorherbestimmt. Doch schon während seines Studiums interessierten ihn Sport und Pferderennen mehr als akademische Fragen. Dennoch bestand er 1889 sein Juraexamen und wurde 1890 als Anwalt zugelassen. Anschließend machte er eine Reise um die Welt und gab vor, sich mit dem Seerecht vertraut zu machen. Auf dieser Reise lernte er den Schriftsteller Joseph Conrad kennen, der zu der Zeit auf einem Handelsschiff Maat war; sie sollten ihr Leben lang Freunde bleiben. Als Galsworthy nach London zurückkehrte, zeigte er wenig Neigung, den juristischen Beruf auszuüben. Stattdessen streifte er durch die Londoner Slums, trieb für seinen Vater Mieten ein und kam mit den unteren gesellschaftlichen Schichten in Berührung. Anfänglich hatte er der Politik gleichgültig gegenübergestanden, aber je mehr er Einblick in die unteren Klassen bekam, desto mehr wurden ihm das Elend, die Armut und soziale Ungerechtigkeit klar, die die großen Klassenunterschiede schufen.
Im Alter von 28 Jahren begann er seine Schriftstellerlaufbahn mit Unterstützung Ada Galsworthys, die eine unglückliche Ehe mit seinem Cousin Arthur führte und mit der Galsworthy eine Liaison hatte. Seine ersten Werke, »From the Four Winds« (englisch; Über die vier Winde; 1897), eine Sammlung von Kurzgeschichten, und das Joseph Conrad gewidmete zweite Buch, »Sündenfall« (1898), eine Liebesgeschichte, veröffentlichte er unter dem Pseudonym John Sinjohn. Unter seinem richtigen Namen erschien »The Island Pharisees« (englisch; Die Insel der Pharisäer), an dem er drei Jahre gearbeitet hatte: eine Satire auf die englische Gesellschaft. Sie stellt den Anfangspunkt seines Engagements für soziale, moralische und wirtschaftliche Reformen dar.
Nach dem Tod seines Vaters 1904 wurde Galsworthy finanziell unabhängig und heiratete Ada, was er zu Lebzeiten aus Loyalität gegenüber dem Vater vermieden hatte. Die Erlösung, nach neun Jahren offen mit Ada leben zu können, spornte ihn an, »Der Besitzmensch« (1906) fertig zu schreiben. Es handelt sich um den ersten Band der »Forsyte Saga«, an der er aber erst nach dem Ersten Weltkrieg weiterarbeitete. Zuvor schrieb er mehrere Theaterstücke, darunter »Kampf« und »Justiz«, die sich gegen die Einzelhaft richteten. »Justiz« habe, verriet einmal der damalige Innenminister Winston Churchill, einen großen Einfluss auf sein Programm für eine Gefängnisreform ausgeübt.
»Die Forsyte Saga«
Nach dem Ersten Weltkrieg nahm Galsworthy das Thema aus »Der Besitzmensch« wieder auf. In kurzen Abständen erschienen dann die beiden letzten Bände der »Saga«: 1920 »In den Schlingen des Gesetzes. Erwachen« und 1921 »To let« (englisch; Zu vermieten). Später fügte er eine zweite Trilogie hinzu. »Moderne Komödie«, zwischen 1924 und 1928, und die letzte, postum von seiner Frau zusammengestellte und veröffentlichte »Das Ende vom Lied«.
Im Mittelpunkt der »Saga« steht der Anwalt Soames Forsyte, dessen borniertes Besitzdenken sich auch auf seine Frauen erstreckt: die sensible Irene, die er nur unter dem Gesichtspunkt der Investition geheiratet hat, und, nach einem langwierigen Scheidungsprozess (Galsworthy verarbeitet seine eigenen Erfahrungen), die Französin Annette. Eine positive Gegenfigur zu Soames ist sein Cousin Jolyon, ein künstlerisch begabter, feinsinniger Mensch, mit dem Irene nach der Trennung von Soames die Ehe schließt. Die durch die Scheidung ausgelöste Familienfehde setzt sich auch in der nächsten Generation fort. Jon, Irenes Sohn aus zweiter Ehe, lehnt die Heirat mit der geliebten Fleur, Soames' Tochter aus zweiter Ehe, aus Hass auf den Schwiegervater ab. Galsworthy übte Kritik an der Engstirnigkeit, Heuchelei und Gefühlsarmut des gehobenen Bürgertums seiner Zeit. Dabei stützte er sich aber eher auf sein sittliches Empfinden als auf intellektuelle Analyse.
Begeisterte Aufnahme, schnelles Vergessen
Aber wie alle »positiven« Gestalten der Saga sind auch diese beiden eher gefühlsbetont als psychologisch schlüssig charakterisiert — sicher einer der Hauptgründe dafür, dass der einstige Weltruhm der Forsyte-Romane heute verblasst ist. 1949 wurden sie unter dem Titel »That Forsyte Woman« in Hollywood verfilmt.
Thomas Mann schreibt 1925 in seinem »Wort zum Geleit« zur »Forsyte Saga«: »Es lohnt, einen Augenblick der Tatsache nachzudenken, dass das deutsche Publikum dem epischen Hauptwerk Galsworthys, der »Forsyte Saga«, den größten Erfolg bereitet hat, den seit [Romain] Rollands »Jean Christophe« ein ausländisches Werk bei uns gewann [...] Erkenntnis und Kunst distanzieren [Galsworthy] von seiner sozialen Lebensform, die nach Herkunft, Erziehung, Überlieferung die seine ist, der er aber nicht naiverweise angehört, sondern die seine Prosa objektiviert, indem sie an ihr und ihrer historischen Lage Kritik übt [...] Ich werde die Bekanntschaft mit Galsworthy, dem dichterischen Historiker des englischen Bürgertums, immer als einen Gewinn ersten Ranges betrachten.«
Nach seinem Tod sank das Ansehen der Werke Galsworthys beim Publikum und auch in der Literaturszene immer mehr. Zu den vernichtendsten Kritikern des Nobelpreisträgers gehörten die englischen Schriftsteller David Herbert Lawrence und Virginia Woolf.
John Galsworthys Werte und literarische Techniken wurden in einer Periode schnell altmodisch, in der Verfremdung und gesellschaftlicher Nihilismus die vorherrschenden Themen waren, doch sieht man in ihm bis heute den letzten wichtigen Romanschriftsteller des viktorianischen Zeitalters.
I. Arnsperger
Universal-Lexikon. 2012.