Pụschkin,
Pụškin [-ʃ-], bis 1918 Zạrskoje Selọ, 1918-37 Dẹtskoje Selọ, Stadt südlich von Sankt Petersburg, Russland, dem sie administrativ unterstellt ist, 93 100 Einwohner; landwirtschaftliche Hochschule; Puschkinmuseum; Herstellung von Straßenbaumaschinen, Elektrogeräten und Spielwaren.
Innerhalb eines etwa 600 ha großen Parks liegt das Katharinenpalais (kleinerer Bau 1717-23, 1743-48 umgebaut, 1752-57 von B. F. Rastrelli entscheidend vergrößert; 1755-60 wurde das Bernsteinzimmer eingebaut). 1811 wurde im Schlossbereich das Lyzeum (1789-91, 1811 von W. P. Stassow umgebaut) eröffnet, das A. Puschkin 1811-17 besuchte. Im Norden des Parks entstand 1792-96 das klassizistische Alexanderpalais von G. Quarenghi, um das herum 1914-17 der Fjodorowskij Gorodok (»kleine Stadt von Fjodor«) im altrussischen Stil mit Kreml, Kathedrale, Kasernen und Palästen erbaut wurde (heute Landwirtschaftshochschule). Weitere kleinere Bauten im Park sind der Eremitage-Pavillon (1743-54, von Rastrelli) und die Admiralität (1773-77).
Zwischen Sankt Petersburg und Puschkin wurde 1837 die erste Eisenbahnlinie Russlands in Betrieb genommen.
II
Pụschkin,
Pụškin [-ʃ-],
1) Aleksandr Sergejewitsch, russischer Dichter, * Moskau 6. 6. 1799, ✝ Sankt Petersburg 10. 2. 1837, Neffe von 2); entstammte dem alten Erbadel, mütterlicherseits Urenkel Hannibals, des Mohren Peters des Großen. Puschkin war 1811-17 Schüler des Lyzeums in Zarskoje Selo (heute Puschkin), danach im Staatsdienst. Noch während der Lyzeumszeit gewann er Zutritt zu den Petersburger literarischen Salons und Gesellschaften (»Arsamas«, »Seljonaja lampa«). Wegen satirischer und politischer Gedichte wurde er 1820 nach Jekaterinoslaw, später nach Kischinjow und Odessa versetzt und 1824-26 auf das Gut seines Vaters, Michajlowskoje (Gouvernement Pskow), verbannt. Danach lebte er in Moskau und Sankt Petersburg, wo er der persönlichen Zensur Kaiser Nikolaus' I. unterstand. 1836 gründete er die Zeitschrift »Sowremennik« (Zeitgenosse). Intrigen und Angriffe auf die Ehre seiner Frau Natalja Gontscharowa (Ȋ seit 1831) führten zu einem Duell mit dem französischen Emigranten Georges d'Anthès, an dessen Folgen er starb.
Puschkin gilt als der eigentliche Schöpfer der russischen Literatursprache (russische Literatur). Er ließ sich von den älteren Zeitgenossen - W. A. Schukowskij, P. A. Katenin, K. N. Batjuschkow - anregen und war vertraut mit den literarischen Konventionen seiner Zeit, die er, anfangs mit Zitaten, Anspielungen, Titeln und Paraphrasen spielend, als solche dem Leser vor Augen führte, bis er allmählich zur Parodie und Kontrastierung verschiedener Konventionen überging. Der formale Aspekt erhält dabei eine tiefere Bedeutung, indem die Überschneidungen zwischen Klassizismus, Sentimentalismus, Romantik und beginnendem Realismus zugleich die Diskussion verschiedener Weltmodelle und ihrer Gebundenheit an literarische Klischees auslösten und dadurch nach den Beziehungen zwischen Ästhetik und Ethik, »Literatur« und »Leben« gefragt wurde.
Den Schwerpunkt des Werkes Puschkins bildet die Lyrik, die durch ihren Reichtum an Stilmitteln sowie klanglichen und rhythmischen Formen bei gleichzeitiger Klarheit des Ausdrucks und Verhaltenheit des Gefühls unübertroffenes Vorbild der russischen Poesie bleibt. Ihre Skala reicht von der »leichten Poesie« bis zur reifen Liebeslyrik, von der politisch engagierten Stellungnahme bis zur poetischen Verkündung der zeitüberwindenden Sendung des Dichters. Eine wichtige Rolle spielen die Großformen der Versdichtung, angefangen vom frühen heroisch-komischen Märchenepos »Ruslan i Ljudmila« (1820; deutsch »Ruslan und Ludmilla«) über die von Byron beeinflussten »Südlichen Poeme« (»Kavkazskij plennik«, 1822, deutsch »Der Gefangene im Kaukasus«; »Bachčisarajskij fontan«, 1824, deutsch »Der Springbrunnen von Bachtschisaraj«; »Cygani«, 1824, deutsch »Die Zigeuner«), die historisch-heroischen Verserzählungen (»Poltava«, 1829, deutsch »Poltawa«; »Mednyj vsadnik«, entstanden 1833, herausgegeben 1837, deutsch »Der eherne Reiter«) und ironischen Poeme (»Graf Nulin«, 1825, deutsch; »Domik v Kolomne«, 1833, deutsch »Das Häuschen in Kolomna«) bis zu seinem Hauptwerk, dem Versroman »Evgenij Onegin« (1825-32, vollständig herausgegeben 1833; deutsch »Eugen Onegin«). Diese im Lauf von acht Jahren aus Szenen und Reflexionen gefügte Lebens- und Liebesgeschichte der kritisch gesehenen byronistischen Titelfigur spiegelt die Spannung zwischen Leben und Literatur wider; von W. G. Belinskij wurde er als ein treffendes Panorama der russischen Gesellschaft gesehen. Als der erste große psychologisch-gesellschaftskritische Roman der russischen Literatur vermittelte er vielfältige Impulse an spätere Autoren, u. a. an M. J. Lermontow, I. S. Turgenjew, L. N. Tolstoj.
Das dramatische Werk umfasst zum einen die an Shakespeare orientierte historische Tragödie im Blankvers »Boris Godunov« (entstanden 1825, herausgegeben 1831; deutsch), die sich jedoch in Fabel, Charakterdarstellung sowie der Kontrastierung von Weltanschauungen dem historischen Roman annähert, zum anderen die kleinen Versdramen »Kamennyj gost« (entstanden 1830, herausgegeben 1841; deutsch »Der steinerne Gast«) und »Mocart i Sal'eri« (1831; deutsch »Mozart und Salieri«), die sich ebenfalls der Prosa nähern.
Nach 1830 verstärkte sich Puschkins Interesse an der Prosa. Dem unvollendeten Roman »Arap Petra Velikogo« (entstanden 1827, herausgegeben 1837; deutsch »Der Mohr Peters des Großen«) folgten die »Povesti Belkina« (1831; deutsch »Erzählungen Belkins«), die, wie die gesamte Novellistik Puschkins (»Dubravskij«, entstanden 1832/33, herausgegeben 1841, deutsch »Dubrowsky«; »Pikovaja dama«, 1834, deutsch »Pique Dame«), Motive der romantischen Novelle mit volkstümlich stilisierter oder betont sachlicher Erzählweise verbinden. - Die Zeit der Kosakenaufstände unter J. I. Pugatschow behandelt Puschkin in »Istorija Pugačeva« (1834; deutsch »Geschichte des Pugatschew'schen Aufruhrs«), einer historischen Analyse der Rebellion vor dem Hintergrund sozialer, politischer und wirtschaftlicher Unterdrückung, sowie in der Erzählung »Kapitanskaja dočka« (1836; deutsch »Die Hauptmannstochter«), die er ebenfalls zu einem historiographischen Kommentar über diese nationale Krise nutzt.
Ausgaben: Polnoe sobranie sočinenij, 17 Bände (1937-59; Nachdruck 1978); Sobranie sočinenij, 10 Bände (1974-78); Sobranie socinenij (1984).
Eugen Onegin. A novel in verse, übersetzt von V. Nabokov, 4 Bände (1964); Gesammelte Werke, herausgegeben von J. von Guenther (21974); Gesammelte Werke, herausgegeben von H. Raab, 6 Bände (3-61984-85); Die Erzählungen, übersetzt von F. Ottow (Neuausgabe 1991).
M. A. Cjavlovskij: Letopis' žizni i tvorčestva A. S. Puškina (Moskau 1954);
V. Setschkareff: A. P. Sein Leben u. sein Werk (1963);
A. L. Slonimskij: Masterstvo Puškina (Moskau 21963);
U. Herdmann: Die Südl. Poeme A. S. Puškins. Ihr Verhältnis zu Lord Byrons Oriental tales (1982);
P. Debreczeny: The other Pushkin. A study of Alexander Pushkin's prose fiction (Stanford, Calif., 1983);
N. K. Gej: Proza Puškina. Poėtika povestvovanija (Moskau 1989);
U. Busch: P. Leben u. Werk (1989);
Arion. Jb. der Dt. P.-Gesellschaft (1989 ff.).
Universal-Lexikon. 2012.