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Jimi Hendrix
Jimi Hendrix
 
Der Ikarus des Rock
 
Ganze vier Jahre dauerte die Karriere eines der einflussreichsten Musiker der Rockgeschichte - vier Jahre Höhenflug, dann Absturz. Jimi Hendrix hat dem prägenden Instrument des Rock neue Dimensionen eröffnet und als Revolutionär der elektrischen Gitarre bis heute gültige, unübertroffene Maßstäbe gesetzt. Obwohl er mit geschriebenen Noten nichts anzufangen wusste, wurde er zu einem der kreativsten und bedeutendsten Instrumentalisten des 20. Jahrhunderts. Da ihm jegliche stilistische Festlegung zuwider war, durchbrach er Genregrenzen und verschmolz Blues-, Jazz- und Rockelemente mit den ungeahnten Möglichkeiten, die elektrische Verstärker, Effektgeräte und moderne Studiotechnik boten, zu verklausulierten Science-Fiction-Botschaften und psychedelischen Exkursionen ins eigene innere Universum. Dass seine hauptsächlich weißen Fans einen Schwarzen mit einem Schuss Cherokeeblut in den Adern zum Messias der Hippies und, neben Che Guevara, zur Ikone der Achtundsechzigerrevolte erkoren, verwirrte ihn ebenso wie die permanente Forderung nach Showeffekten wie der in Flammen stehenden Gitarre, die mit Zunge und Zähnen malträtiert wird. Bei aller Verehrung für den Gitarristen Hendrix wird meist übersehen, dass er einer der wichtigsten Songschreiber seiner Zeit war.
 
 Von Seattle nach London
 
Jimi Hendrix wurde als Johnny Allen Hendrix am 27. November 1942 in Seattle geboren. Noch als Säugling von der 17-jährigen Mutter verlassen, wuchs er bei seinem Vater Al auf, der ihn in James Marshall Hendrix umbenannte. Schon als Kind begeisterte er sich für die Musik solcher Rhythm-and-Blues-Legenden wie Muddy Waters, B. B. King und Chuck Berry. Auf ausrangierten akustischen Gitarren erarbeitete er sich das Instrument autodidaktisch und bekam 1958 vom Vater die erste elektrische Gitarre, eine Supro Ozark, mit der er bei den Rocking Kings einstieg. 1961 ging Hendrix freiwillig zu den Fallschirmspringern und lernte in der Kaserne von Fort Campbell, Kentucky, den Bassisten Billy Cox kennen, mit dem er die Band King Casuals gründete. Nachdem er sich bei einem missglückten Sprung an der Wirbelsäule verletzt hatte, wurde er aus der Armee entlassen und verdiente sein Brot anschließend unter dem Namen Jimmy James als für Tourneen angeheuerter Gitarrist in diversen Bands wie denen von Ike Turner, Little Richard oder den Isley Brothers. 1965 gründete er in New York seine erste eigene Band, »Jimmy James and the Blue Flames«. Das immense Talent und die außergewöhnliche Technik des Linkshänders, der die Saiten seiner Gitarre in umgekehrter Reihenfolge aufgespannt hatte, fiel angesichts der massiven Konkurrenz kaum jemandem auf, bis Chas Chandler, der frühere Bassist der »Animals«, im Juli 1966 zufällig Zeuge eines mit allen Tricks gespickten Auftritts im Café »Wha?« in Greenwich Village wurde. Chandler, als Musiker eher ein kleineres Licht, versuchte sich im Musikgeschäft als Talentsucher und Manager. Sofort erkannte er in Hendrix nicht nur den Ausnahmegitarristen, sondern auch den faszinierenden Showman, der sich bei Link Wray Kunststücke wie hinter dem Rücken gezupfte Soli abgeguckt hatte. Chandler kratzte seine Ersparnisse zusammen und holte Hendrix nach London, wo er ihm den vorher kaum in Erscheinung getretenen Musiker Mitch Mitchell am Schlagzeug und den kurzerhand vom Gitarristen zum Bassisten umfunktionierten Noel Redding zur Seite stellte.
 
 Kometenhafter Aufstieg und kreativste Phase
 
Dieses überhastet zusammengezimmerte Trio entpuppte sich als ideales Medium für Jimis völlig neuartigen Psychedelic Space Blues. Als »The Jimi Hendrix Experience« war die Band im Herbst 1966, ohne eine Platte veröffentlicht zu haben, die Sensation in London, und die führenden Gitarristen der Stadt wie Eric Clapton, Jeff Beck oder Pete Townshend gestanden mehr oder weniger neidlos ein, in Hendrix ihren Meister gefunden zu haben. Da sich die großen Firmen mit dem Entscheidungsprozess wie üblich zu lange Zeit ließen, vermittelten Chandler und sein Partner Michael Jeffrey die Band an Track Records, ein neues Label, dessen Mitbegründer der ehemalige »Who«-Manager Kit Lambert war. Obwohl die BBC sich 1966 noch schwer tat mit den progressiven Klängen, wurde die erste Single »Hey Joe« u. a. durch massiven Einsatz bei Piratensendern wie Radio Caroline europaweit zum Hit. Das wahre Potenzial offenbarte 1967 die LP »Are you experienced«, deren elf Titel vom Slowblues »Red house« bis zum psychedelischen, rauschhaften Exkurs in die Tiefen der Galaxis reichen und von dort den »3rd stone from the sun«, die Erde, betrachten. »Foxy lady«, »Manic depressions«, »Fire« - es findet sich kaum ein Titel, der nicht zum Klassiker geworden ist. In diesem ungeheuer kreativen Jahr schockte Hendrix aber auch die Profikollegen mit stilistisch völlig unterschiedlichen Singlehits wie »Purple haze«, der Wah-Wah-Feedback-Orgie »Burning of the midnight lamp« und der wunderschön sparsam arrangierten Ballade »The wind cries Mary«. Als er, immer noch im selben Jahr, das Album »Axis: bold as love« nachlegte, stritt sich die staunende Konkurrenz endgültig nur noch um Platz 2. Neben unnachahmlichen, weil kontrollierten Rückkopplungskaskaden und einer zunehmend komplizierter werdende Rhythmik auf Stücken wie »If 6 was 9« oder »Spanish castle magic« bewies Hendrix hier auf dem sanften »Little wing« oder dem swingenden »Up from the skies«, dass er auch ohne Effektgeräte eine Klasse für sich war. Den neuen europäischen Superstar kannten in seiner alten Heimat bislang nur wenige Eingeweihte. Um dies zu ändern, schickte ihn das Management auf Amerikatournee, wo er zwar im Vorprogramm der Monkees für Ratlosigkeit bei den Kids und Entsetzen bei deren Müttern sorgte, aber auch den unumstrittenen Höhepunkt des Monterey-Popfestivals setzte und mit in Flammen stehender Gitarre selbst die für ihre Materialschlachten berüchtigte Gruppe »The Who« in den Schatten stellte. Als 1968 das Doppelalbum »Electric ladyland« erschien, war Hendrix beiderseits des Atlantiks das Idol der aufmüpfigen Jugend, die in ihm nicht nur den revolutionären Musiker, sondern auch den Rebellen für eine freiere Gesellschaft und nicht zuletzt das Sexsymbol der Hippiegeneration sah. Hendrix selbst war eher verstört ob dieser Glorifizierung und entwickelte zunehmende Unlust gegen den Presserummel um einen Popstar, der ausschließlich als ernsthafter Musiker wahrgenommen werden wollte. Neben seinen größten Hits »Voodoo chile« und dem von Bob Dylan verfassten »All along the watchtower« bot »Electric ladyland« hauptsächlich ausgedehnte, experimentelle Klangcollagen wie »Moon turn the tides« oder »1983«, bei denen Hendrix die modernen Aufnahmemöglichkeiten als zusätzliches Instrument einsetzte und erstmals die Triobesetzung um Gastmusiker wie Stevie Winwood und Buddy Miles erweiterte. Das Album gilt als sein kreativer Zenit; es ist bis heute fesselnd zu verfolgen, wie Hendrix die unterschiedlichsten Elemente von Soul bis Freejazz zu einem in sich stimmigen Gesamtkunstwerk verschmolz und dabei als Produzent auch noch neue Maßstäbe für den Einsatz von Studiotechnik setzte.
 
 Selbstzweifel, Überdruss und Tod
 
Der Erfolg hatte jedoch seinen Preis. Der ununterbrochene Tourneestress führte bei Hendrix zu Zweifeln an der eigenen künstlerischen Identität, je öfter von ihm erwartet wurde, stereotyp die altbekannten Hits zu wiederholen und dabei die Saiten mit Zunge und Zähnen zu bearbeiten. Die beiden anderen Mitglieder der Band »Experience« wollten dagegen den erfolgreichen Stil beibehalten, konnten sich bei den ständig steigenden Gagen jedoch immer weniger mit ihrem bescheidenen Festgehalt abfinden. Ständige Querelen über die künftige musikalische Ausrichtung führten dazu, dass der verärgerte Chas Chandler seine Anteile am Wirtschaftsunternehmen Hendrix an Michael Jeffrey verkaufte und Noel Redding im Sommer 1969 von Billy Cox abgelöst wurde. Nachdem auch der Auftritt beim legendären Woodstock-Festival, abgesehen von der einer Hinrichtung gleichenden Interpretation der amerikanischen Nationalhymne, eher enttäuschend verlief, stieg auch Mitch Mitchell aus, der mit dem vergleichsweise hölzern spielenden Cox nicht halb so gut harmonierte wie mit Redding. Wieder im Trio nahm Hendrix mit Cox und dem Funkdrummer Buddy Miles als »Band of Gypsys« die gleichnamige Live-LP auf, die 1970 erschien. Obwohl mit »Machine gun« und »Who knows« zwei Hendrix-Klassiker enthalten waren, demonstrierte die Platte überdeutlich, dass die neue Rhythmusgruppe der alten das Wasser nicht reichen konnte. Hendrix holte daraufhin Mitchell zurück und verbrachte jede freie Minute im Studio. Er hatte sich in den Kopf gesetzt, zukünftig zweigleisig zu fahren und neben seiner Rockband ein Jazzprojekt in Bigbandbesetzung anzugehen. Die Sessions in New York zur geplanten nächsten LP, die optimistisch »First ray of the new rising sun« heißen sollte, wurden ständig unterbrochen von Auftritten bei europäischen Festivals. Hendrix empfand sich als Spielball seines Managers Michael Jeffrey und spulte lustlose, uninspirierte Auftritte auf der Isle of Wight, in Stockholm, Kopenhagen, Berlin und beim desaströsen Fehmarn-Festival herunter. Er wirkte abwesend, paranoid und steigerte seinen ehedem höchstens durchschnittlichen Kokain- und Cannabiskonsum in bedenkliche Höhen. Mitte September zog er sich in London mit seiner deutschen Freundin Monika Dannemann in deren Apartment zurück. Er wollte dort einerseits etwas Abstand gewinnen, andererseits Chas Chandler überreden, sein Management wieder zu übernehmen. Am Morgen des 18. September 1970 fand Monika Dannemann ihn schlafend in der Wohnung. Bis sie bemerkte, dass etwas nicht in Ordnung war, vergingen 30 Minuten, bis der Notarzt eintraf, eine weitere halbe Stunde. Er konnte nur noch den Tod feststellen. Entgegen allen Gerüchten und Spekulationen der Sensationspresse war Hendrix kein Opfer illegaler Drogen. Er hatte neun Schlaftabletten geschluckt, und als sein Magen gegen diese viel zu hohe Dosis rebellierte, erstickte er am Erbrochenen. Nach übereinstimmenden Aussagen aus dem Freundeskreis war Hendrix damals zwar reichlich konfus, aber keineswegs depressiv, sondern voller Tatendrang und neuer Ideen. Nach seinem Tod überschwemmte eine wahre Flut posthumer Veröffentlichungen den Markt, darunter unbedeutende Produkte, die seine frühe amerikanische Phase als Begleiter von Sängern wie Little Richard, Curtis Knight oder Lonnie Youngblood dokumentieren und nicht zur Veröffentlichung vorgesehen waren. Das letzte halbwegs legitime Hendrix-Album erschien 1971 unter dem Titel »The cry of love« und enthielt die besten der bereits vollendeten Titel des geplanten Doppelalbums »First ray of the new rising sun«, darunter »Angel«, »Freedom« und »In from the storm«. Eine Veröffentlichung von unterdurchschnittlichem Livematerial wie »Isle of Wight« und »In the west« hätte Hendrix vermutlich ebenso abgelehnt wie die von Michael Jeffrey betriebene Produktion der Alben »War heroes«, »Crash landing«, »Midnight lightning« und »Voodoo soup«, die aus Demos und unfertigen Aufnahmen bestehen und meist nachträglich von anonymen Studiomusikern »vollendet« wurden. Empfehlenswert in der Masse der aus dem Nachlass zusammengestellten Alben sind allerdings »Loose ends«, »Nine to the universe«, »Radio one«, »Blues!« und die Soundtracks zu den Filmen »Rainbow bridge« und »Jimi Hendrix«. Nach jahrzehntelangen Zivilprozessen bekam Al Hendrix die Rechte am Werk seines Sohnes zugesprochen, und 1997 begann MCA mit einer liebevoll besorgten Neuauflage des authentischen Gesamtwerks in chronologischer Folge, von »Are you experienced« bis hin zum von nachträglichen Beifügungen befreiten »First ray«. Erst jetzt wird deutlich, dass hier ein Meisterwerk unvollendet blieb.

Universal-Lexikon. 2012.