Dostojẹwskij,
Dostoẹvskij [-j-], Fjodor Michajlowitsch, russischer Dichter, * Moskau 11. 11. 1821, ✝ Sankt Petersburg 9. 2. 1881; verbrachte als Sohn eines Arztes aus einer verarmten Adelsfamilie die Kindheit meist in Moskau, litt schon früh an epileptischen Anfällen, studierte an der Militäringenieurschule in Sankt Petersburg (1838-43); seit 1844 war er als freier Autor tätig. Sein Erstlingswerk, der Roman »Arme Leute« (1846), von dem maßgeblichen Kritiker der Zeit, W. G. Belinskij, als »Werk eines Genies« bezeichnet, wurde ein großer Erfolg. Die nächsten Werke (darunter »Weiße Nächte«) fanden bei den Kritikern keine positive Resonanz. 1847 war Dostojewskij Mitglied des geheimen Zirkels um M. W. Petraschewskij, in dem u. a. der »utopische Sozialismus« diskutiert wurde. 1849 wurden die Mitglieder des Zirkels verhaftet; Dostojewskij wurde zum Tod verurteilt, auf dem Richtplatz aber zu vier Jahren Zuchthaus in Sibirien begnadigt (1850-54). Die »Aufzeichnungen aus einem Totenhaus« schildern diese Leidenszeit. Erst 1859, nach mehreren Jahren Militärdienst, durfte Dostojewskij zurückkehren, jetzt als überzeugter Christ und radikaler Gegner des atheistischen Sozialismus. Gemeinsam mit seinem Bruder Michail (* 1820, ✝ 1864) gab Dostojewskij Zeitschriften heraus (»Vremja«, 1861-63, »Epocha«, 1864-65), unternahm Auslandsreisen und begann die Reihe seiner großen Romane: »Schuld und Sühne«, »Der Idiot«, »Die Dämonen«, »Der Jüngling« und »Die Brüder Karamasow«. Um seinen Gläubigern zu entfliehen, entschloss sich Dostojewskij zu einem längeren Auslandsaufenthalt (1867-71) mit seiner zweiten Frau Anna, geborene Snitkina. In seinem in Form einer Monatsschrift erschienenen »Tagebuch eines Schriftstellers« kommen die politisch-ideologische Stellung Dostojewskijs, sein Panslawismus, seine Volksgläubigkeit und sein religiöser Mystizismus am unmittelbarsten zur Geltung.
Dostojewskij knüpfte zunächst an N. W. Gogol an, den er, wie die meisten seiner russischen Zeitgenossen, als Verkünder eines sozialen Mitleids mit den »Erniedrigten und Beleidigten« (miss)verstand. In den späteren großen Romanen schuf er sich eine eigene, neuartige Romanform, die seinem neuen Menschen- und Weltbild entsprach. Sie neigt zur Auflösung aller starren Grenzen und zur Aufhebung jeder eindeutigen Interpretation. An die Stelle einer übersichtlichen Romanfabel tritt ein kompliziertes, bewusst verwirrtes und mystifiziertes Geflecht von Intrigen; der Gehalt spaltet sich auf in ein perspektivisches und dialektisches Neben- und Gegeneinander individueller Ansichten; die äußere Umwelt, die krankhaft-gespannte Atmosphäre der Großstadt und der innere, ebenso krankhaft-überspannte Zustand der Figuren spiegeln sich wechselseitig und gehen ineinander über. Die Auflösung aller Begrenzungen ermöglicht eine bisher unbekannte Dynamik der Handlungsführung und Seelenanalyse, die dramatisch auf die Katastrophe zutreiben. Diese ist sowohl Vernichtung als auch Sprengung des individuellen Egoismus, der sozialen und seelischen Isolierung und damit tragischen Reinigung und Erlösung. Insofern ist der von Dostojewskij geschaffene Romantypus als »Romantragödie« charakterisiert worden. Zur Dynamik tritt eine Art Schichtung in drei miteinander unauflösbar verbundene Ebenen: die kriminalistische Handlungsebene, ihre psychologische Vertiefung und deren Erhöhung zu einem Kampf metaphysischer Mächte oder bewegender Ideen (Idee und Kritik des Übermenschen in »Schuld und Sühne«, des Nihilismus oder des atheistischen Sozialismus in den »Brüdern Karamasow« und den »Dämonen«, die Idee des »wahrhaft schönen Menschen« im »Idiot« u. a.).
Tiefe Religiosität, aufopfernde Liebe für alle Leidenden und kritische Auseinandersetzung mit selbstherrlichem Rationalismus und Individualismus sind für Dostojewskijs Weltbild entscheidend. Während Dostojewskij in Russland und im Westen zunächst v. a. wegen seiner Ideen und als Meister der tiefenpsychologischen Analyse bewundert wurde, findet er in der neueren Kritik und Forschung immer mehr auch als literarischer Künstler und als Schöpfer einer neuen, bahnbrechenden Romantechnik Beachtung und Würdigung.
Werke: Romane: Bednye ljudi (1846; deutsch Arme Leute); Selo Stepančikovo i ego obitateli (1859; deutsch u. a. als Das Dorf Stepantschikowo und seine Bewohner); Unižennye i oskorblennye (1861; deutsch Erniedrigte und Beleidigte); Prestuplenie i nakazanie (1866; deutsch 1866 unter dem Titel Raskolnikow, 1906 unter dem Titel Schuld und Sühne, 1993 unter dem Titel Verbrechen und Strafe); Igrok (1867; deutsch Der Spieler); Idiot (1868; deutsch Der Idiot); Besy (1871-72; deutsch u. a. als Die Dämonen); Podrostok (1875; deutsch u. a. als Der Jüngling); Brat'ja Karamazovy (1879-80; deutsch Die Brüder Karamasow; mit der »Legende vom Großinquisitor«).
Erzählungen: Dvojnik (1846; deutsch Der Doppelgänger); Slaboe serdce (1846; deutsch Das schwache Herz); Gospodin Procharčin (1846; deutsch Herr Prochartschin); Roman v devjati pis'mach (1847; deutsch Roman in neun Briefen); Chozjajka (1847; deutsch Die Wirtin); Belye noči (1848; deutsch u. a. als Weiße Nächte); Polzunkov (1848; deutsch Polsunkoff); Čužaja žena i muž pod krovat'ju (1848; deutsch Die fremde Frau und der Ehemann unter dem Bett); Čestnyj vor (1848; deutsch Ein ehrlicher Dieb); Elka i svad'ba (1848; deutsch Weihnacht und Hochzeit); Malen'kij geroj (1849; deutsch Ein kleiner Held); Netočka Nezvanova (1849; deutsch u. a. als Netotschka Neswanowa); Djaduškin son (1859; deutsch u. a. als Onkelchens Traum); Skvernyj anekdot (1862; deutsch Eine dumme Geschichte); Zimnye zametki o letnich vpečatlenijach (1863; deutsch Winteraufzeichnungen über Sommereindrücke); Zapiski iz podpol'ja (1864; deutsch u. a. als Aufzeichnungen aus dem Kellerloch); Krokodil (1865; deutsch Das Krokodil); Večnyj muž (1870; deutsch u. a. als Der ewige Gatte); Krotkaja (1876; deutsch Die Sanfte); Son smešnogo čeloveka (1877; deutsch Der Traum eines lächerlichen Menschen).
Zapiski iz mertvogo doma (1860-62; deutsch Aufzeichnungen aus einem Totenhaus).
Dnevnik pisatelja (1873, 1876/77, 1880, 1881; deutsch Tagebuch eines Schriftstellers).
Ausgaben: Werke, übersetzt von E. K. Rahsin, 20 Bände (1906-19, Neuausgabe 10 Bände, 1952-63 und 1977-80); Sämtliche Romane und Erzählungen, übersetzt von H. Röhl und K. Nötzel, Einleitung von S. Zweig, 25 Bände (1921 folgende, Neuausgabe 16 Bände 1986); Polnoe sobranie chudožestvennych proizvedenij, herausgegeben von B. Tomaševskij und K. I. Chalabaev, 13 Bände (1926-30); Pis'ma, herausgegeben von A. Dolinin, 4 Bände (1928-59); Gesammelte Briefe 1833-1881, herausgegeben von F. Hitzer (1967, 21986); Polnoe sobranie sočinenij, 30 Bände (1972-90); Die Briefe an Anna 1866-1880, übersetzt von B. Schröder (1986); F. Dostojewskij. Sämtliche Romane und Erzählungen, 13 Bände (1994).
N. A. Berdjaev: Die Weltanschauung D.s (a. d. Russ., 1925);
R. Lauth: Die Philosophie D.s (1950);
F. M. D. Bibliografija proizvedenij F. M. Dostojevskogo i literatury o nem. 1917-1965 (Moskau 1968);
A. G. Dostojewskaja: Erinnerungen (a. d. Russ., Neuausg. 1980);
M. M. Bachtin: Probleme der Poetik D.s (a. d. Russ., 1985);
A. G. Dostojewskaja: Tagebücher. Die Reise in den Westen (a. d. Russ., 1985);
J. Meier-Graefe: D. Der Dichter (21988);
B. Harres: Mensch u. Welt in Dostoevskijs Werk (1993);
R. Neuhäuser: F. M. Dostojevskij. Die großen Romane u. Erzählungen (Wien 1993);
I. Volgin: La dernière année de Dostoïevski (a. d. Russ., Paris 1994).
D. studies (Klagenfurt 1980 ff.);
Jb. der D.-Gesellschaft (1992).
Hier finden Sie in Überblicksartikeln weiterführende Informationen:
Dostojewskij und Tolstoj und die russische Erzählkunst
Universal-Lexikon. 2012.