Pestalọzzi,
Johann Heinrich, schweizerischer Pädagoge, Schriftsteller und Sozialreformer, * Zürich 12. 1. 1746, ✝ Brugg 17. 2. 1827; studierte ab 1764 zunächst Theologie, dann Rechtswissenschaft in Zürich. Dort gehörte Pestalozzi dem Kreis um J. J. Bodmer und J. J. Breitinger an. Durch H. C. Hirzels Schrift »Die Wirthschaft eines philosophischen Bauern« (1761) angeregt, gründete er mit seiner Frau Anna (* 1738, ✝ 1815) ein landwirtschaftliches Unternehmen auf dem Neuhof bei Birr (Kanton Aargau), das jedoch scheiterte, ebenso der Versuch, den Hof in eine Erziehungsanstalt für arme Kinder umzuwandeln. In »Die Abendstunde eines Einsiedlers« (1782) rechtfertigte er sein pädagogisches Vorhaben. In dem Roman »Lienhard und Gertrud« (1781-87, 4 Bände) versuchte Pestalozzi, sein Rechtsdenken, seine Anschauungen über Natur und Gesellschaft und seine Theorie der Schule in ein Modell zu fassen. Da seine Reformvorstellungen in der alten Eidgenossenschaft keinen Widerhall fanden, hoffte er zunächst auf den aufgeklärten Absolutismus, dann auf die Französische Revolution. 1792 wurde Pestalozzi als einziger Schweizer Ehrenbürger der Französischen Republik. Doch sein Engagement für die Revolution (»Ja oder Nein?«, 1793) war auf Mäßigung und Ausgleich bedacht. 1798 eröffnete er ein Waisenhaus in Stans und 1800 eine Versuchsschule in Burgdorf, die 1803 nach Münchenbuchsee (Kanton Bern) verlegt wurde. In dieser Zeit entstanden die wichtigsten Schriften zur didaktischen Methode und die Elementarbücher. Nach dem Scheitern der Zusammenarbeit mit P. E. Fellenberg in der »Pädagogischen Provinz« auf dem Wylhof bei Münchenbuchsee siedelte Pestalozzi nach Yverdon über, wo er 1804-25 ein Erziehungsinstitut leitete, das weltberühmt wurde. 1825 kehrte er, nach Zerwürfnissen mit seinen Mitarbeitern, auf den Neuhof zurück. - Als Politiker wie als Pädagoge beschäftigte Pestalozzi die »Verwilderung« und »Entwürdigung« des Volkes. Als ihre Ursachen sah er die menschliche Natur, das Privateigentum und den Staat (»Freymüthige Nachforschungen über den Gang der Natur in der Entwickelung des Menschengeschlechts«, 1797). Sie sollten durch das Recht (als Einschränkung des Eigennutzes) und durch Sittlichkeit (als Einschränkung der menschlichen Natur) beseitigt werden. Er verstand Erziehung als Entfaltung der in der menschlichen Natur liegenden positiven Kräfte und suchte sie auf »Anschauung« (als Gegensatz zum »Buchwissen«), das heißt den inneren Sinn des Menschen für die Ordnung der Welt, und auf »Liebe« und »Glauben« zu gründen. Pestalozzi forderte die umfassende Entwicklung der geistigen, sittlich-religiösen und körperlich-werktätigen Kräfte (»Kopf, Herz, Hand«), die er im Lebenskreis der Familie, im Mutter-Kind-Verhältnis (v. a. auch in einer durch mütterliche Erziehung gebildeten Sprache) und letztlich in der Bindung an Gott als engster Beziehung des Menschen verwurzelt sah. - Im Europa der Restauration wirkte v. a. sein spätes pädagogisches Werk, das die Gründung zahlreicher erzieherischer Musteranstalten anregte. Stand zunächst das Unterrichtsmethodische im Vordergrund, so trat mit zunehmender Industrialisierung der sozialreformerische Gedanke als Mittel gegen die Zerstörung der Familie hervor.
Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts begann man, sich Pestalozzis Gesamtwerk zuzuwenden, und erst seit 1927 erschienen zahlreiche, bis dahin unbekannte Werke im Rahmen einer kritischen Gesamtausgabe.
Ausgaben: Sämtliche Werke, herausgegeben von L. W. Seyffahrt, 12 Bände (Neuausgabe 1899-1902); Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe, herausgegeben von A. Buchenau u. a., 29 Bände (1927-85); Werke, herausgegeben von G. Cepl-Kaufmann u. a., 2 Bände (1977); Pestalozzi über seine Anstalt in Stans. Mit einer Interpretation von W. Klafki (51982).
H. Morf: Zur Biogr. P.s, 4 Bde. (1-21868-89, Nachdr. 1966);
H. Barth: P.s Philosophie der Politik (Zürich 1954);
A. Rang: Der polit. P. (1967);
F. Delekat: J. H. P. (31968);
P. Stadler: P., 2 Bde. (Zürich 1-31993-96);
Philosophie u. Religion bei P. P.-Bibliogr. 1977-1992, hg. v. F.-P. Hager u. D. Tröhler (Bern 1994);
M. Liedtke: J. H. P. (56.-58. Tsd. 1995);
S. Hebensreit: J. H. P. Leben u. Schriften (1996).
Universal-Lexikon. 2012.