Akademik

Neue Musik
Neue Musik,
 
Begriff, der im weitesten Sinn eine Musik bezeichnet, deren Repräsentanten nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten suchen. So ist Neue Musik einerseits an keine Epoche gebunden, sofern sie bestrebt ist, überkommene Vorbilder zu überwinden. Andererseits kann sie selbst wieder veralten, wenn neue Strömungen auftreten. Schon die Ars nova des 14. Jahrhunderts suchte neue Wege in Rhythmik und Melodik gegenüber der ihr vorausgehenden Ars antiqua. Im 19. Jahrhundert galten F. Liszt und R. Wagner gegenüber J. Brahms als Exponenten einer Neuen Musik (neudeutsche Schule).
 
Im engeren Sinn meint Neue Musik die Musik, die sich programmatisch von den im 19. Jahrhundert geltenden Prinzipien der Dur-Moll-Tonalität gelöst hat. Paul Bekker (* 1882, ✝ 1937), der als Erster den Ausdruck Neue Musik gebrauchte und zum Titel einer Schrift (1923) machte, fasste ihn noch relativ weit, indem er v. a. eine Erneuerung des melodischen Empfindens forderte. Dagegen kündigte sich die Abkehr von der Funktionsharmonik im 19. Jahrhundert schon im Vorspiel des »Tristan« (1854/55) von Wagner (1859) an, und die Auflösung der überkommenen harmonischen Strukturen der Dur-Moll-Tonalität fand bereits im Stilbereich des Impressionismus statt.
 
Den eigentlichen Beginn der Neuen Musik markieren die ersten atonalen Kompositionen von A. Schönberg aus dem Jahre 1909 (drei Klavierstücke Opus 11; atonale Musik). Dabei sah man das grundsätzlich Neue der Neuen Musik weniger in ihrer lange als fremdartig empfundenen Klangfassade als vielmehr in ihrem anders gearteten Strukturgefüge. Während in der traditionellen Musik alle musikalischen Ereignisse (z. B. Harmonik, Metrik, Rhythmik) in einem syntaktischen Sinne hierarchisch bezogen waren, kennt die Neue Musik die vorgeordnete Hierarchie der Elemente nicht. Stattdessen wird jedes kompositorische Element als tendenzloses Einzelereignis begriffen, das erst aufgrund eines für jede Komposition charakteristischen Strukturentwurfs seinen musikalischen Stellenwert erhält.
 
In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts lassen sich drei Richtungen der Neuen Musik unterscheiden: 1) eine expressionistische seit etwa 1906 (Wiener Schule), v. a. mit Schönberg, A. Berg und A. Webern; 2) eine neoklassizistische seit 1920, v. a. mit I. Strawinsky; 3) eine folkloristische, v. a. mit B. Bartók. Institutionen förderten diese Neue Musik in ihrer Vielfalt, v. a. die 1922 gegründete Internationale Gesellschaft für Neue Musik. Hinzu kommen jährliche Musiktage, z. B. in Donaueschingen 1921-26 und seit 1950, in Darmstadt die Ferienkurse für Neue Musik seit 1946 (seit 1970 alle zwei Jahre). Die expressionistische Richtung wandte sich seit 1923 der Kompositionsweise mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen (Zwölftontechnik) zu. In der neoklassizistischen Richtung kam die elementare Rhythmik von Strawinsky in den Jahren 1930-50 zu Weltgeltung (A. Honegger, D. Milhaud, P. Hindemith). Zur theoretischen Leitfigur der Neuen Musik wurde T. W. Adorno, der in seiner »Philosophie der Neuen Musik« (1949) beide Positionen (wenn auch nur bis zur Entwicklung der Zwölftontechnik) in der Antithese »Schönberg und der Fortschritt« und »Strawinsky und die Reaktion« gegeneinander stellte. Dem suchten u. a. P. Boulez und K. Stockhausen zu begegnen, indem sie besonders die rhythmischen Neuerungen Strawinskys hervorhoben.
 
Seit etwa 1947 griffen zahlreiche Komponisten die Zwölftontechnik auf: L. Dallapiccola, H. W. Henze, W. Fortner u. a., zuletzt auch Strawinsky. Angeregt durch die Spätwerke Weberns und durch ein Klavierstück von O. Messiaen (»Mode de valeurs et d'intensités«, 1949/50) begannen Komponisten verschiedener Länder (L. Nono, Boulez, Stockhausen), die serielle Musik zu entwickeln. Zum Teil mit mathematisierenden Methoden übertrugen sie das anfangs noch an der thematisch-melodischen Arbeit entwickelte Gesetz der Reihe auch auf andere Parameter des Werkes wie Tondauer, Dynamik, Klangfarbe.
 
Um 1950 entstand, angeregt durch Untersuchungen des Physikers Werner Meyer-Eppler (* 1913, ✝ 1960), die elektronische Musik, in Frankreich etwa zur gleichen Zeit die konkrete Musik. Neue Materialien und Verfahrensweisen führten seit Mitte der 60er-Jahre durch eine Kombination des herkömmlichen Instrumentariums mit elektronischen Klängen, Tonbandeinblendungen, verfremdeten Sprachlauten sowie Raumklangeffekten zu einer außerordentlichen Vielfalt akustischer Eindrücke. Die verbindliche Fixierung der Notation weicht der Aufzeichnung einzelner Klang- und Geräuschelemente oder bloßen Hinweisen über die Art der Ausführung. Von zusätzlichen, der überkommenen Notenschrift hinzugefügten, mitunter grafisch gestalteten Zeichen verläuft die Entwicklung bis zu den Assoziationsfeldern der musikalischen Grafik.
 
Von 1950 »neu entdeckten« kompositorischen Materialien hat v. a. der Parameter Klangfarbe, auf den schon Schönberg in seiner »Harmonielehre« (1911) hingewiesen hatte, nach 1960 (G. Ligeti, K. Penderecki) an Bedeutung gewonnen. Grundelement ist nun nicht mehr nur der Einzelton, sondern daneben ein sich stets verändernder, in sich belebter Tonkomplex.
 
Allgemein führt die Ablehnung herkömmlicher kompositionstechnischer Systeme zu freien Formen der Aleatorik und der Collage, auch zu Wandelkonzerten: gleichzeitige Darbietungen in verschiedenen Räumen, auf Straßen oder Plätzen, bei denen der Zuhörer eine aktive Rolle übernimmt, indem er durch Wechsel des Standortes seinen Höreindruck bestimmt (Stockhausen, M. Kagel u. a.). Vielfache Anregungen erfährt die experimentelle Musik durch das Institut de Recherche et de Coordination Acoustique-Musique (IRCAM) in Paris. Speziell Fragen der Raumklangkomposition und der Realisation von Liveelektronik widmet sich seit 1971 das Experimentalstudio des Südwestfunks in Freiburg im Breisgau. Zwischen Avantgarde, Jazz und Rockmusik steht die in den USA entstandene Minimalmusic. Sie verwirklicht statische, oft meditative Klanglichkeit. Auf dem Gebiet der Oper, deren Entwicklung von Ausnahmen abgesehen (z. B. Henze) in der Neuen Musik nach 1950 zeitweise stagnierte, ist nach experimentellen Formen des instrumentalen Theaters der 70er-Jahre wieder ein verstärktes Interesse am literarisch gebundenen Musiktheater zu verzeichnen.
 
Im Gegensatz zu Prinzipien der Avantgarde steht seit Ende der 70er-Jahre eine neoromantische, anfangs schlagwortartig als Neue Einfachheit charakterisierte Richtung, die unter Rückgriff auf überlieferte, auch tonale Elemente wieder mehr auf Sinnlichkeit und Unmittelbarkeit der musikalischen Erfahrung abzielt. Diese Richtung hat inzwischen einem Stilpluralismus Platz gemacht, der eine Standortbestimmung gegenwärtiger Musik zunehmend unmöglich macht. Postserielle, tonale, modale, minimalistische (J. Adams), meditative oder Geräuschklangkompositionen (C. A. Delz) stehen nebeneinander beziehungsweise durchdringen sich wechselseitig. Hinzu kommen Anleihen bei fernöstlicher, afrikanischer oder lateinamerikanischer Musik (Kronos-Quartett) sowie Grenzüberschreitungen in Richtung Jazz, Pop- oder Rockmusik (M. Davies; L. Lombardi). Bei osteuropäischen Komponisten (A. Pärt, Penderecki, H. Górecki), aber auch bei manchen westeuropäischen Avantgardisten (z. B. Stockhausens Zyklus »Licht«) offenbart sich eine neue Religiosität, vielfach getragen von einer Vorliebe für emphatische Melodik. Vor dem Hintergrund der allgemeinen Postmoderne-Diskussion ist das Stichwort der »Dekomposition« zu sehen. Musikgeschichte als universal zugänglicher Fundus wird z. B. mithilfe von Collage- und Zitattechniken neu verfügbar gemacht und »polystilistisch« umgedeutet (A. Schnittke, D. Schnebel). Die Ende der 1980er-Jahre programmatisch auftretende »neue Komplexität« (B. Ferneyhough) versucht, mit handwerklich höchst differenziert strukturierten Kompositionen gegen die kompositorische Beliebigkeit der Postmoderne anzutreten, gerät dabei allerdings mitunter an die Grenzen von Aufführungspraxis und Durchhörbarkeit neuester Musik. In den 1990er-Jahren sind Bemühungen erkennbar, eine Klangkunst der äußersten Differenzierung zu schaffen. Raum, Zeit, Farbe, Tonhöhe und Dynamik werden in ihren Mikrobereichen zum Gegenstand kompositorischer Prozesse. Als Medium der Komposition und der Aufführungstechnik spielt hierbei oft der Computer eine Rolle (Computermusik).
 
Literatur:
 
E. Křenek: Über n. M. (Wien 1937, Nachdr. 1977);
 A. von Webern: Der Weg zur n. M. (ebd. 1960);
 C. Dahlhaus: Schönberg und andere. Ges. Aufs. zur N. M. (1978);
 T. W. Adorno: Philosophie der n. M. (Neuausg. 1983);
 R. Smith-Brindle: The new music. The avant-garde since 1945 (Oxford 21987);
 
N. M. - Quo vadis? 17 Perspektiven, hg. v. D. de la Motte (1988);
 
Die Wiener Schule, hg. v. R. Stephan (1989);
 
Musik im Exil. Folgen des Nazismus für die internat. Musikkultur, hg. v. H.-W. Heister u. a. (1993);
 
N. M. im geteilten Dtl., hg. v. U. Dibelius u. F. Schneider, 3 Bde. (1993-97);
 D. Schnebel: Anschläge, Ausschläge, Texte zur n. M. (1993);
 H. Danuser: Die Musik des 20. Jh. (Neuausg. 1997);
 U. Dibelius: Moderne Musik (Neuausg. 1998).
 
Hier finden Sie in Überblicksartikeln weiterführende Informationen:
 
Avantgarde, Moderne und Neue Musik
 

Universal-Lexikon. 2012.