Nationalitätenfrage,
Bezeichnung für politische, wirtschaftlich-soziale und kulturelle Probleme, die sich aus dem Zusammenleben verschiedener (Teil-)Nationen in einem Staat ergeben. Die Nationalitätenfrage tritt nicht nur in Vielvölkerstaaten (»Nationalitätenstaaten«), sondern auch in Nationalstaaten auf, in denen sich eine Nation, die sich als Staatsnation mit dem Staat identifiziert, einer größeren oder kleineren Zahl von nationalen Minderheiten gegenübergestellt sieht. Während die Staatsnation die Struktur und Entwicklung des Staates ganz oder weitgehend bestimmen will, fordern die nationalen Minderheiten Mitbestimmung an den Staatsgeschäften, meist in Verbindung mit Autonomierechten auf politischem, wirtschaftlich-sozialem und kulturellem Gebiet. - Die Nationalitätenfrage entwickelte sich mit dem Neuverständnis von Staat und Gesellschaft als Nation in der politischen Aufklärung und mit der Rückbesinnung einer Gruppe von Menschen auf gemeinsame Sprache, Kultur und Geschichte in der Romantik (18./19. Jahrhundert). Für Staaten mit Gruppen verschiedenen Selbstverständnisses entstand, besonders seit dem 19. Jahrhundert, die Notwendigkeit einer Nationalitätenpolitik, deren Maßnahmen sowohl Unterdrückung nationaler Minderheiten beziehungsweise Nationalitäten (Ignorierung, Ausweisung, physische Vernichtung) und diskriminierende oder gewaltsame Assimilierung als auch Gewährung von Autonomierechten umfassen können.
Geschichtliche Entwicklung:
Im 19. und frühen 20. Jahrhundert erlangte die Nationalitätenfrage mit dem Freiheitskampf der unterdrückten Völker besondere Brisanz in Mittel-, Ost- und Südosteuropa sowie auf der Arabischen Halbinsel. Von existenzieller Bedeutung war sie besonders für die Vielvölkerstaaten Österreich-Ungarn, das Kaiserreich Russland und das Osmanische Reich. - Mit der Errichtung der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie (1867) war man bestrebt, die v. a. in der Märzrevolution (1848) evident gewordene Nationalitätenfrage durch einen Österreichisch-Ungarischen Ausgleich zu lösen; er erwies sich jedoch als wenig entwicklungsfähig: in Transleithanien infolge der Politik der Magyarisierung, in Zisleithanien besonders in Anbetracht der deutsch-tschechischen Frage (u. a. gescheiterter Böhmischer Ausgleich 1890). Demokratisch orientierte Kräfte (z. B. Brünner Nationalitätenprogramm 1899 der SPÖ) unternahmen Vorstöße, durch übernationale, pluralistische und humanitäre Staatskonzeptionen die Nationalitätenprobleme zu überwinden. Erst während des Ersten Weltkrieges gewannen irredentistische und sezessionistische Kräfte die Oberhand und trugen maßgeblich zum Zerfall der Donaumonarchie bei (v. a. wegen der südslawischen Frage). - Im zaristischen Russland war die Nationalitätenfrage weitgehend unbeachtet geblieben; die durch Eroberungen besonders im 18./19. Jahrhundert dem Russischen Reich angeschlossenen nichtrussischen Völker (z. B. Polen, Ukrainer, Finnen, Balten) waren, in Verbindung mit dem Panslawismus, häufig einer brutalen Russifizierungspolitik unterworfen worden. - Das Osmanische Reich fand seit den Freiheitskämpfen der Balkanvölker wie auch gegenüber den Arabern weder im Panislamismus noch im Osmanismus der Jungtürken Lösungsansätze in der Nationalitätenfrage, die in den Balkankriegen (1912-13) zur Vertreibung von Nationalitäten führte. Vor und während des Ersten Weltkrieges kam es zu einer blutigen Verfolgung der Armenier.
Mit den »Pariser Vorortverträgen« (1919/20) bildeten sich in Europa neue Staaten; das dabei proklamierte Selbstbestimmungsrecht der Völker - v. a. in Mittel- und Südosteuropa - wurde allerdings durch die Grenzziehungen seitens der Ententemächte verletzt, und neue Minderheitensituationen entstanden (u. a. Sudetendeutsche in der Tschechoslowakei, Ungarn in Rumänien, der Slowakei, Karpatoukraine und Wojwodina; in Griechenland, in der Türkei). - Mit dem Übergang vom kaiserlichen zum bolschewistischen Russland bildete sich dort ein Staatswesen auf föderativer Grundlage (1922 als Sowjetunion konstituiert); zwar fand die Nationalitätenfrage durch die Autonomie für die Völkerschaften Beachtung, wurde jedoch durch die Alleinherrschaft der (russisch dominierten) bolschewistischen Partei, die gewaltsame Einführung einheitlicher politischer und wirtschaftlicher Verhältnisse sowie die Nivellierung der kulturell-ethnischen Unterschiede weitgehend wieder aufgehoben beziehungsweise blieb formal. - Mit der Auflösung des Osmanischen Reiches (ab 1918) bildeten sich in enger Verbindung mit dem britischen und französischen Kolonialismus arabischer Staaten, deren führende Schichten (zum Teil) diese Staaten als Teil einer »arabischen Nation« auffassten (panarabische Bewegung). Im Kampf sowohl mit dem türkischen als auch dem arabischen Nationalismus versuchen die Kurden seit dem Ersten Weltkrieg die Anerkennung einer eigenen nationalen Identität durchzusetzen.
Eine Sonderform der Nationalitätenfrage wurde Ende des 19. Jahrhunderts die Palästinafrage; neben verschiedenen anderen europäischen nationalen Konflikten entstanden durch die Veränderungen im Gefolge des Zweiten Weltkrieges neue Konfliktherde, deren brisantester bis zum Ende des Ost-West-Konflikts der Nahe Osten (Nahostkonflikt) blieb. - Die mit dem Zusammenbruch des Ostblocks 1989-91/92 einhergehenden neuen nationalen Eigenentwicklungen führten auch zu zunehmenden Spannungen (z. B. in der Tschechoslowakei). Im posttitoistischen Vielvölkerstaat Jugoslawien brachen die zuvor weitgehend eingeebneten nationalen Gegensätze auf; nach seinem Zerfall kam es 1991-95 zu kriegerischen Auseinandersetzungen um die Findung eigener nationaler Identität. Im Rahmen der sowjetischen Reformpolitik seit 1985 erlangte die in der Sowjetunion ungelöste Nationalitätenfrage erneut Aktualität mit der (Neu-)Formierung von Autonomie- und Unabhängigkeitsbewegungen. Jahrzehntelang aufgestaute Nationalitätenprobleme zwischen beziehungsweise innerhalb der Unionsrepubliken entluden sich in blutigen, oft bürgerkriegsähnlichen ethnischen Konflikten (z. B. zwischen Armeniern und Aserbaidschanern, zwischen Georgiern und Abchasen sowie Südosseten) und erschütterten die UdSSR, die mit der Gründung der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) 1991 ihr Ende fand. Danach wurde in der Russischen Föderation v. a. die Nationalitätenfrage in Tschetschenien brisant. - Zur Nationalitätenfrage in Afrika Apartheid, Tribalismus.
Weitere Informationen zu diesem Thema finden Sie v. a. auch in den folgenden Artikeln:
Autonomie · ethnische Konflikte · Minderheit
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Na|ti|o|na|li|tä|ten|fra|ge, die <o. Pl.>: politische, wirtschaftlich-soziale u. kulturelle Probleme in einem Nationalitätenstaat.
Universal-Lexikon. 2012.