Münchener Abkommen
Hitlers Popularität war nach dem so reibungslos verlaufenen Anschluss Österreichs auf einem Höhepunkt angelangt. Die Meinung, er werde alles, was er anpacke, zu einem guten Ende führen, war allgemein verbreitet. Aber Hitler plante noch im März 1938 den nächsten Coup, die Zerschlagung der Tschechoslowakei. Indem er die seit dem Ende des 1. Weltkrieges im tschechoslowakischen Vielvölkerstaat lebenden Deutschen anstachelte, ihre Autonomieforderungen immer höher zu schrauben, sodass sie für den tschechoslowakischen Staat nicht mehr annehmbar wurden, löste er die Sudetenkrise aus. Die zwischen den 3,5 Millionen Sudetendeutschen und dem tschechoslowakischen Staat sich verschärfenden Spannungen nahm Hitler jetzt zum Anlass, die Abtretung des vorwiegend von Deutschen bewohnten Sudetenlandes an das Deutsche Reich zu fordern. Sein offen der Wehrmachtführung gegenüber geäußerter »unabänderlicher Entschluss, die Tschechoslowakei in absehbarer Zeit durch eine militärische Aktion zu zerschlagen«, veranlasste den Generalstabschef des Heeres, Generaloberst Ludwig Beck, gegen Hitlers unverhüllte Kriegspläne zu protestieren und von seinem Amt zurückzutreten. Um ihn und seinen Nachfolger im Amt, General Franz Halder, bildete sich jetzt eine Widerstandsgruppe, die, um den Krieg zu verhindern, zum Staatsstreich entschlossen war und der britischen Regierung signalisierte, Hitlers aggressivem Vorgehen entgegenzutreten. Der britische Premierminister Neville Chamberlain aber glaubte, mit Konzessionsbereitschaft Hitler von einem gewaltsamen Schritt gegen die Tschechoslowakei abhalten zu können (»Appeasement-Politik«). Er bot seine Vermittlungsdienste an und flog am 15. und 22. September 1938 zu Besprechungen mit Hitler nach Deutschland. Als Hitler auf dem Einmarsch der Wehrmacht in die Tschechei und auf der Abtretung des Sudetenlandes beharrte, musste Chamberlain die Hilfe Mussolinis in Anspruch nehmen, um doch noch zu einem Abkommen auf friedlichem Wege zu gelangen. Das von Chamberlain, Mussolini, Hitler und dem französischen Ministerpräsidenten Édouard Daladier am 30. September 1938 unterzeichnete Münchner Abkommen verpflichtete die Tschechoslowakei, ab 1. Oktober die Sudetengebiete zu räumen, die gleichzeitig von deutschen Truppen besetzt wurden. Großbritannien und Frankreich garantierten der Tschechoslowakei die Existenz ihres Reststaates. Hitler und Chamberlain unterzeichneten am 30. September eine deutsch-britische Nichtangriffs- und Konsultationserklärung, in der sich beide Politiker verpflichteten, für die friedliche Regelung aller Streitfragen einzutreten. Hitler erklärte, keine weiteren territorialen Ansprüche mehr zu haben.
II
Mụ̈nchener Abkommen,
am 29. 9. 1938 in München zwischen dem Deutschen Reich, Großbritannien, Frankreich und Italien geschlossener, am 30. 9. durch A. Hitler, A. N. Chamberlain, É. Daladier und B. Mussolini unterzeichneter Vertrag. Er beendete die »Sudetenkrise« und beseitigte zunächst die durch Hitlers ultimative Drohungen an die Tschechoslowakei (ČSR) entstandene Kriegsgefahr. Es regelte (ohne Beteiligung der ČSR) die deutsche Besetzung (zwischen 1. und 10. 10.) und Abtretung der überwiegend von Deutschen bewohnten Grenzgebiete Böhmens und Mährens (v. a. das »Sudetenland«, 78 % davon der spätere Reichsgau) an das Deutsche Reich (28 643 km2 mit 3,63 Mio. Einwohnern, d. h. ein Fünftel der Gesamtfläche und ein Viertel der Bevölkerung der ČSR). In der Folge musste die ČSR auch Gebietsteile an Polen (Teschen/Olsa-Gebiet) und Ungarn (u. a. Karpatoukraine) abtreten. Dafür sollten Bestand und Sicherheit der restlichen ČSR von den Unterzeichnerstaaten garantiert werden, eine Zusage, die Hitler (wie auch die anderen Unterzeichner) nicht einhielt.
Seit Gründung der ČSR (1918) belasteten Spannungen zwischen der zentralistischen Politik der Prager Regierungen und den verschiedenen nationalen Minderheiten, besonders den Sudetendeutschen, das Land. Sahen sich die Sudetendeutschen 1918/19 gegen ihren Willen in den neuen Staat einbezogen, so fühlten sie sich seither gegenüber den Tschechen wirtschaftlich und politisch benachteiligt. Die Machtentfaltung des nationalsozialistischen Deutschland nach 1933 verschärfte die sudetendeutsche Autonomieforderungen und die Spannungen in der ČSR. Die von Berlin unterstützte Sudetendeutsche Partei (SdP) unter K. Henlein war für Hitler ein Instrument, die Sudetenkrise anzuheizen.
Nach dem erzwungenen »Anschluss« Österreichs an das Deutsche Reich (März 1938) forderte die SdP auf Weisung Berlins in ihrem Karlsbader Programm (24. 4. 1938) die volle Gleichberechtigung, schließlich die »Einverleibung« in das Deutsche Reich. Für Hitler waren diese Forderungen nur eine taktische Durchgangsstation für die angestrebte Vernichtung der ČSR.
Verhandlungen:
Die Drohungen und ultimativen Forderungen des nationalsozialistischen Deutschen Reiches verschärften die internationalen Spannungen und veranlassten Großbritannien und Frankreich, die auf eine militärische Auseinandersetzung nicht vorbereitet waren, zu Vermittlungsaktionen und Konzessionen (Politik des Appeasement). Im Verlauf der Mai-Krise (20./21. 5. 1938) und im Zusammenhang mit der Entsendung Lord Runcimans als Vermittler nach Prag am 3. 8. 1938 sowie bei seinem Treffen mit Hitler in Berchtesgaden (15. 9. 1938 machte der britische Premierminister Chamberlain deutlich, dass er zu Zugeständnissen in der Sudetenfrage nur bereit wäre, wenn gegen die ČSR keine Gewalt eingesetzt werde. Auf der Grundlage des Runciman-Berichtes empfahlen die britische und französische Regierung am 19. 9. 1938 der tschechoslowakischen Regierung unter M. Hodža die Abtretung der Sudetengebiete ohne Volksabstimmung gegen eine Garantie der neuen tschechischen Grenzen (am 21. 9. von Beneš angenommen). Die zweite Verhandlung Chamberlains mit Hitler am 22.-24. 9. 1938 in Bad Godesberg scheiterte nun an der weitergehenden Forderung Hitlers nach einer Besetzung des Sudetengebietes durch deutsche Truppen ab 28. 9. Auf Vermittlung Mussolinis kam es daraufhin am 29. 9. zum Treffen in München.
Die ČSR verlor nicht nur wirtschaftlich und strategisch wichtige Gebiete, das Münchener Abkommen löste auch einen von Berlin aus unterstützten inneren Auflösungsprozess der Rest-ČSR aus. Mit dem Münchener Abkommen waren die territoriale Revision der Pariser Vorortverträge (1919) abgeschlossen und die großdeutsch-nationalstaatlichen Forderungen erfüllt. Doch für Hitler ging es in Wirklichkeit nicht um das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen, sondern um die Eroberung neuen Raumes im Osten. Die Zerschlagung der ČSR, die Hitler dann im März 1939 endgültig durchsetzte, war eine Etappe auf diesem Weg. Das Münchener Abkommen hatte die Kriegsgefahr in Europa nicht gebannt; es gilt inzwischen als Inbegriff falscher Nachgiebigkeit gegenüber der Aggression einer Diktatur (»Münchener Diktat«). - Am 5. 8. 1942 wurde das Münchener Abkommen in einem Briefwechsel zwischen dem britischen Außenminister A. Eden und dem Führer der tschechoslowakischen Exilregierung E. Beneš für aufgehoben erklärt; auch das französische Nationalkomitee unter C. de Gaulle erklärte 1942, dass es das Münchener Abkommen für nichtig betrachte. - Im »Prager Vertrag« (deutsch-tschechischer »Normalisierungsvertrag«; 11. 12. 1973) wurde das Münchener Abkommen lediglich »nach Maßgabe dieses Vertrages als nichtig« erklärt; mit dem »Deutsch-Tschechoslowakischen Nachbarschaftsvertrag« (27. 2. 1992 wurden die beiderseitig entgegengesetzten Standpunkte über die Rechtsgültigkeit beziehungsweise -ungültigkeit des Vertrages nicht beseitigt.
B.-J. Wendt: München 1938 (1965);
R. M. Smelser: Das Sudetenproblem u. das Dritte Reich (1980);
Die große Krise der dreißiger Jahre, hg. v. Gerhard Schulz (1985);
München 1938. Das Ende des alten Europa, hg. v. P. Glotz u. a. (1990).
Universal-Lexikon. 2012.