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Variationsrechnung
Va|ri|a|ti|ons|rech|nung 〈[va-] f. 20; Math.〉 Verfahren zur Berechnung von Maximal- u. Minimalwerten einer Funktion, Teilgebiet der Analysis

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Variationsrechnung
 
[v-], Teilgebiet der Analysis, das sich mit der Formulierung und Lösung von Variationsproblemen, d. h. Extremwertaufgaben für Funktionale, beschäftigt und in der Theorie der Operatoren, v. a. der Differenzialgleichungen mit ihren Anwendungen in der theoretischen Physik und Technik, eine wichtige Rolle spielt.
 
Allgemein formuliert besteht ein Variationsproblem aus der Aufgabe, für ein reell- oder komplexwertiges Funktional Φ auf einer Teilmenge B eines algebraisch-topologischen Raumes Extremalen zu bestimmen, d. h. Elemente aus B, in denen Φ ein lokales oder absolutes Extremum annimmt. Häufig ist B Teilmenge eines Funktionenraumes und Φ ein Integral einer von mehreren Funktionen und ihren Ableitungen abhängigen Grundfunktion. Folgende klassische Probleme hatten großen Einfluss auf die Entwicklung der Variationsrechnung: Beim isoperimetrischen Problem ist eine geschlossene Kurve vorgegebener Länge gesucht, die unter Nebenbedingungen einen maximalen Flächeninhalt besitzt; beim geodätischen Problem soll zwischen zwei Punkten auf einer krummen Fläche eine kürzeste Verbindungslinie ermittelt werden; die Bestimmung der Kurve, auf der ein Massenpunkt im Schwerefeld in kürzester Zeit reibungsfrei von einem Punkt P (x0, 0) zu einem tiefer gelegenen Punkt Q (x1, y1) gleitet, heißt Problem der Brachistochrone. Im letzten Fall zeigt der Energieerhaltungssatz, dass das Funktional
 
auf der Menge aller stetig differenzierbaren Funktionen y auf [x0, x1] mit y (x0) = 0 und y (x1) =y1 ein Minimum annehmen muss. Allgemein handelt es sich um eine lagrangesche Aufgabenstellung, ein Funktional
 
zu minimieren, wobei die zweimal stetig differenzierbare Grundfunktion F von x von der stetig differenzierbaren Funktion y (x) mit y (a) =A, y (b) = B und deren Ableitung y' (x) abhängt. Eine notwendige Bedingung für das Vorliegen eines Extremums ergibt sich aus folgendem Lösungsansatz: Nimmt Φ in y einen Extremwert an und ist u eine stetig differenzierbare Funktion auf [a, b] mit u (a) = u (b) = 0, so ist für jede reelle Zahl ε > 0 die Variation y + εu von y eine zur Konkurrenz zugelassene Funktion auf [a, b], und die Funktion ϕ (ε):Φ (y + εu) besitzt in ε = 0 ein Extremum, es ist also ϕ' (0) = 0. Differenziation unter dem Integral und anschließende partielle Integration ergibt
 
für jede Funktion u mit obigen Eigenschaften, woraus als Randwertproblem die Euler-Lagrange-Differenzialgleichung
 
mit der Randbedingung y (a) = A, y (b) = B folgt, deren Lösung die gesuchte Funktion y ist. Mithilfe der lagrangeschen Multiplikatorenmethode kann eine lagrangesche Aufgabenstellung
 
mit der Nebenbedingung G (x, y) = 0 auf das Variationsproblem
 
ohne Nebenbedingung mit der zunächst unbekannten lagrangeschen Multiplikatorfunktion λ (x) zurückgeführt werden. Von besonderer Bedeutung in der Variationsrechnung ist auch die Möglichkeit, gewisse Differenzialgleichungen auf Variationsprobleme zurückzuführen, um Aussagen über deren Lösbarkeit sowie Lösungen zu erhalten. Für eine lineare Randwertaufgabe einer Differenzialgleichung L (u) = f mit homogenen linearen Randbedingungen sind zur Bestimmung einer Lösungsfunktion u aus dem Vektorraum V der den Randbedingungen genügenden Funktionen des Definitionsbereichs von L die Fehlerquadrat- und die Energiemethode zwei wichtige Konstruktionsmethoden. Im ersten Fall wird das Funktional
 
ü ber V minimiert, wobei für eine gewöhnliche Differenzialgleichung z. B. die Norm
 
gewählt werden kann. Bei der Energiemethode wird durch
 
oder ein geeignetes Gebietsintegral ein Skalarprodukt auf V eingeführt und im Falle em>L (u), v = em>u, L (v)> für alle u, vV und em>L (u), u 0 für alle uV mit u ≠ 0 eine Lösung durch Bestimmung des Minimums von Φ (u):em>L (u), uf, uV ermittelt. Das Funktional Φ entspricht bei zahlreichen physikalischen Problemen der Energie und heißt deshalb auch Energiefunktional. Eine Lösung ν kann mit dem ritzschen Verfahren bestimmt werden; für eine Näherungslösung νn liefert dabei der Ansatz mit linear unabhängigen Koordinatenfunktionen ϕi aus V eine Funktion F (a1,. .., an):Φ (νn), deren Koeffizienten a1,. .., an aus einem ritzschen System
 
linearer Gleichungen berechnet werden können. Zur Konstruktion der Koordinatenfunktionen ϕi wird häufig die Finite-Elemente-Methode herangezogen.
 
Geschichte:
 
Die eigentliche Entwicklung der Variationsrechnung begann mit dem von Johann Bernoulli 1696 gestellten Problem der Brachistochrone, der Frage nach geodätischen Linien auf krummen Flächen und dem isoperimetrischen Problem. L. Euler fand notwendige Bedingungen für ein Extremum eines einfachen Funktionals, erhob die Variationsrechnung zu einer eigenständigen mathematischen Disziplin und gab ihr, Bezug nehmend auf den von J. L. de Lagrange eingeführten Begriff der Variation, auch den heutigen Namen. Lagrange entwickelte auch erstmals Methoden zur systematischen Behandlung großer Klassen von Variationsproblemen, die von A.-M. Legendre und C. G. J. Jacobi fortentwickelt wurden. K. Weierstrass bereicherte die Variationsrechnung insbesondere durch einen nach ihm benannten fundamentalen Satz und hinreichende Bedingungen für Extrema. Im Gegensatz zur klassischen Methode der Variationsrechnung, die eine Lösung der Euler-Lagrange-Differenzialgleichung auf ihr Extremalverhalten untersucht, stellte D. Hilbert die Aufgabe, die Lösbarkeit gewisser Differenzialgleichungen über die Existenz von Extremalen zugehöriger Variationsprobleme zu beweisen. Diese direkte Methode wurde v. a. von C. Carathéodory, Leonida Tonelli (* 1885, ✝ 1946) und J. S. Hadamard fortentwickelt. Carathéodory nutzte die Hamilton-Jacobi-Theorie und behandelte darauf aufbauend auch sehr allgemeine mehrdimensionale Variationsprobleme. Tonelli brachte das Minimumproblem mit der Mengenlehre in Verbindung. Die Anwendung der Methoden von Weierstrass auf mehrfache Extremalintegrale erfolgte v. a. durch A. Kneser. Harold Calvin Marston Morse (* 1892, ✝ 1977) begründete mit analytisch-topologischen Methoden die Variationsrechnung im Großen, bei der Extremalen in Bezug auf die gesamte zugrunde liegende Mannigfaltigkeit eines Variationsproblems interessieren.
 
Literatur:
 
P. Funk: V. u. ihre Anwendung in Physik u. Technik (21970);
 P. Blanchard u. E. Brüning: Direkte Methoden der V. (Wien 1982);
 U. Brechtken-Manderscheid: Einf. in die V. (1983);
 K. Rektorys: Variationsmethoden in Mathematik, Physik u. Technik (a. d. Tschech., Neuausg. 1985);
 E. Klingbeil: V. (21988);
 C. Carathéodory: V. u. partielle Differentialgleichungen erster Ordnung, hg. v. R. Klötzler (Neuausg. 1994).
 

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Va|ri|a|ti|ons|rech|nung, die: mathematisches Verfahren zur Berechnung einer Funktion durch Bestimmung der Extremwerte eines von dieser Funktion abhängigen Integrals.

Universal-Lexikon. 2012.