Zwanzigstes Jahrhundert,
tab nach der Zeitzählung des abendländischen Kulturkreises, die in Christi Geburt ihren Fixpunkt hat, beginnt das 20. Jahrhundert am 1. 1. 1901 und endet am 31. 12. 2000 (Ära, Chronologie, Kalender). Gebräuchlich, wenn auch nicht wissenschaftlich exakt, ist der Ansatz des neuen Jahrhunderts mit dem Wechsel der Jahrhundertzahl; danach wird unter 20. Jahrhundert die Zeitspanne vom 1. 1. 1900 bis 31. 12. 2000 verstanden.
»Alle die fahlen Rosse der Apokalypse sind durch mein Leben gestürmt, Revolution und Hungersnot, Geldentwertung und Terror, Epidemien und Emigration; ich habe die großen Massenideologien unter meinen Augen wachsen und sich ausbreiten sehen, den Faschismus in Italien, den Nationalsozialismus in Deutschland, den Bolschewismus in Rußland und vor allem jene Erzpest, den Nationalismus, der die Blüte unserer europäischen Kultur vergiftet hat... Uns war es vorbehalten, wieder seit Jahrhunderten Kriege ohne Kriegserklärungen, Konzentrationslager, Folterungen, Massenberaubungen und Bombenangriffe auf wehrlose Städte zu sehen, Bestialitäten all dies, welche die letzten fünfzig Generationen nicht mehr gekannt haben und künftige hoffentlich nicht mehr erdulden werden... Wenn ich versuche, für die Zeit vor dem ersten Weltkriege, in der ich aufgewachsen bin, eine handliche Formel zu finden, so hoffe ich am prägnantesten zu sein, wenn ich sage: es war das goldene Zeitalter der Sicherheit.« So erinnert sich S. Zweig, Jahrgang 1881, in seiner Autobiographie »Die Welt von gestern«, die wenige Wochen vor seinem Freitod am 23. 2. 1942 erschienen ist, an die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts. Er markiert darin die beiden Weltkriege als tiefe Zäsuren innerhalb der vergangenen 100 Jahre.
Der Erste Weltkrieg zog einen Schlussstrich unter das 19. Jahrhundert, indem er den Zerfall des europäischen Mächtesystems bewirkte und die in der Einheit Europas gegebene relative Einheitlichkeit der Welt, das koloniale System eingeschlossen, auflöste. Die »Weltgeschichte Europas« (H. Freyer) war zu Ende gegangen.
Mit diesem Umbruch bereitete sich das Zeitalter der Extreme, »The age of extremes« (E. Hobsbawm), vor. Es mündete 1989/91 in die von Europa ausgehenden und gegen den Realsozialismus gerichteten friedlichen Revolutionen. Hobsbawm bezeichnete es daher als »kurzes Jahrhundert«, das 1914 beginnt und 1989/90 endet.
In den sieben Jahrzehnten zwischen dem Ersten Weltkrieg und dem letzten Jahrzehnt des Jahrhunderts konkurrierten in großen Teilen der Welt drei gesellschaftliche Grundordnungen, von denen zwei in ihren Ursprungs- beziehungsweise Ausgangsländern untergegangen sind, die faschistische und die kommunistische. Der Holocaust am jüdischen Volk ist an die nationalsozialistische Diktatur, das System des GULAG an die kommunistische gebunden. Geblieben ist die an die Marktwirtschaft geknüpfte freiheitliche demokratische Ordnung, geblieben sind wenige spätkommunistische Herrschaftssysteme wie in China, Nord-Korea und in Kuba sowie recht verschiedene Ordnungen in der Dritten Welt, die sich seit dem Zerfall des Kolonialismus entwickelten und zum Teil gleichfalls einen Gestaltwandel der Extreme durchleben.
Der Zweite Weltkrieg mit dem Abwurf der ersten Atombomben und die zahlreichen Kriege, die in allen Teilen der Welt auf ihn folgten, der Kalte Krieg ebenso wie Korea- und Vietnamkrieg stehen für die anhaltende Krisenhaftigkeit des Jahrhunderts. Alle diese Weltkonflikte haben in großem Ausmaß Menschengruppen in Bewegung gesetzt als Soldaten, Gefangene, Deportierte, als Flüchtlinge, Vertriebene, Asylsuchende.
In diesem Jahrhundert sind sehr verschiedenartige Ordnungs- und Leitvorstellungen auf den jeweiligen Kontinenten und Subkontinenten wirksam geworden: An die europäische wie die US-amerikanische Geschichte des 20. Jahrhunderts sind die Marktwirtschaft, der Rechtsstaat, der Nationalstaat u. a. gebunden. Aus dem Wohlfahrtsstaat im späten 19. Jahrhundert bildete sich der Sozialstaat im 20. Jahrhundert heraus. In zunehmenden Konkurrenzverhältnissen und angesichts der Massenarbeitslosigkeit in industriellen Kernländern hat er offensichtlich inzwischen die Grenzen seiner Möglichkeiten erreicht.
In einem umfassenden Wandel wurde die traditionelle, männlich bestimmte Geschlechterordnung in großen Teilen der Welt erschüttert oder bereits abgelöst. Die Länder- und Völkergrenzen überschreitenden Frauenbewegungen und natürlich auch die Friedensbewegungen gehörten zu den größten Mobilisierungsleistungen des 20. Jahrhunderts, das auch das Jahrhundert des Kindes wie der Jugend war. In keinem Jahrhundert bisher haben Menschen v. a. in den entwickelten Industrieländern ein so hohes Durchschnittsalter erreicht.
Die Wissenschaft als Produktivkraft hat in ihren Auswirkungen auf das menschliche Dasein alle bisherigen Maßstäbe gesprengt; sie hat eine technologische Welt geschaffen und die Institutionalisierung der gesellschaftlichen Ordnungen enorm vorangetrieben, die Säkularisierung weiter beschleunigt und dadurch alle Religionen zu teils heftigen Gegenbewegungen herausgefordert. Die 60er- und 70er-Jahre zeichneten sich weltweit durch einen enormen Modernisierungsschub aus. Die erreichten wissenschaftlichen Fortschritte im Hinblick auf Atomphysik, Elektronik, Computerisierung und Gentechnik, vielleicht auch die Informationsflut der Gegenwart, erscheinen heute zum Teil als nicht mehr ausreichend steuerbar.
Das 20. Jahrhundert endet mit deutlich erkennbaren Übergängen zur Globalisierung. Die neuen Medien haben durch Visualisierung eine sehr veränderte Wahrnehmung von der Welt ausgelöst. Die weltumspannende Kommunikation in ihrer Intensität und zunehmenden Detailvernetzung wie der globale Zugriff auf den Menschen lassen ahnen, was das 21. Jahrhundert für die Weltbevölkerung an Innovationen, Chancen, Überforderungen wie Gefährdungen bereithalten wird.
Universal-Lexikon. 2012.