Akademik

Hungersnot
Hụn|gers|not 〈f. 7uZeit allgemeiner starker Lebensmittelknappheit

* * *

Hụn|gers|not, die [mhd. hungernōt]:
großer, allgemeiner Mangel an den nötigsten Nahrungsmitteln:
eine drohende H.

* * *

Hungersnot,
 
Zustand anhaltenden Mangels an Grundnahrungsmitteln in einer Gesellschaft, der zu Unterernährung und Verhungern vieler Menschen führt. (Hunger)
 
Massensterben aufgrund von Verhungern sind für Altertum und Mittelalter für alle Erdteile dokumentiert. Erste schriftliche Nachrichten über eine Hungersnot stammen aus Ägypten (etwa 2500 v. Chr.). Bei den frühen Hungersnöten wird immer wieder auf die Klimafaktoren als Auslöser von Missernten hingewiesen, wobei v. a. anhaltende Dürreperioden eine verhängnisvolle Rolle spielten. Eine Missernte als Folge anhaltenden Regens bewirkte die 1315-17 andauernde Hungersnot in Mittel- und Westeuropa; bis zu 5 % der Bevölkerung starben. In der Neuzeit waren u. a. Russland (1650-52) und Indien (um 1555, 1594-98) wegen großer Regenfälle und Überschwemmungen von Hungerkrisen betroffen. Als verheerendste dürrebedingte Hungerkatastrophen gelten die Hungersnot 1769/70 in Bengalen mit rd. 10 Mio. Toten sowie die Hungersnot von 1876-79 in Nordchina, deren Opfer auf bis zu 19 Mio. geschätzt werden. In Bengalen und Indien forderten durch Missernten ausgelöste Teuerungen 1943 rd. 3 Mio. Opfer. Die seit Ende der 70er-Jahre v. a. Afrika heimsuchenden Dürren (v. a. Sahelzone, Äthiopien, zuletzt in Somalia und Moçambique) sind Beispiele dafür, wie klimatische Faktoren unter den Bedingungen der Unterentwicklung auch heute noch katastrophale Folgen haben können.
 
Hungersnöte traten häufig zusammen mit Seuchen (Pest, Cholera, Pocken, Typhus) auf. So wird z. B. angenommen, dass eine schwere Hungersnot in China (1333-37; mehr als 5 Mio. Opfer) eine der Ursachen für die Ausbreitung der Pest gewesen ist, die ab 1347/48 auch das Abendland heimsuchte.
 
Folgen von Hungersnot erstreckten sich oft über mehrere Jahre. Infolge der vom Nahrungsmittelmangel ausgelösten Teuerungen konnten die (nichtbäuerlichen) unteren Schichten nicht genügend Nahrungsmittel erwerben; dies führte häufig zur Dezimierung der Bevölkerung (Opfer waren besonders Säuglinge und Greise) sowie zu einer verringerten Zahl von Eheschließungen und Geburten. Die z. B. durch eine Missernte verursachte große Hungersnot 1771/72, die sich am stärksten im Erzgebirge auswirkte, forderte in Sachsen rd. 100 000 Tote (in einzelnen Orten achtfache Sterblichkeit gegenüber früheren Jahren).
 
Hauptsächlich politische Faktoren lösten die Hungersnot aus, die während des Dreißigjährigen Krieges 1618-48 Deutschland (v. a. Sachsen, Thüringen und Brandenburg), 1693 und 1769 auch Frankreich durchlitt. Neben Unterdrückung und Verfolgung waren Hungersnöte ein wichtiger Grund für die Auswanderungsbewegungen des 19. Jahrhunderts. Bekannt ist hier v. a. die Hungersnot in Irland von 1845-48 (»Great Famine«), die die irische Bevölkerung um ein Fünftel dezimierte (über 1 Mio. Tote), weil eine Kartoffelkrankheit drei Ernten (1845, 1846, 1848) vernichtet hatte; ähnliche Folgen hatte sie in Südwestdeutschland (1846-49).
 
Die Zahl der während des Bürgerkrieges in der Sowjetunion 1921/22 an Hunger Gestorbenen wird auf 1,5-5 Mio., die der Opfer der - durch die Zwangskollektivierung verstärkten - Hungersnot 1932-34, besonders in der Ukraine, auf 5-6 Mio. geschätzt. Die Belagerung Leningrads durch deutsche Truppen (1941-44) forderte 1 Mio. Opfer (viele durch Aushungern). In seiner Endphase und nach dem Zweiten Weltkrieg (1944-47), begleitet von Flucht, Vertreibung und Massensterben, wurden Hungersnot und Nahrungsmittelmangel sowie damit verbundene Krankheiten zeitweilig auch wieder ein sozialpolitisches Problem für Europa, in Deutschland in den ersten Jahren der Besatzungszeit besonders in den Städten (zum Teil zwölffache Säuglingssterblichkeit; Lebensmittelkarten, Hamsterfahrten aufs Land). In China kam es als Folge der Politik des »Großen Sprungs nach vorn« (1958-60/61) zur vermutlich schwersten Hungersnot in der Neuzeit, deren Opfer mit 20-40 Mio. angegeben werden (drei bittere Jahre 1960-62); Mangelernährung ist aber auch heute noch ein bedeutendes gesellschaftspolitisches Problem in Asien (neben China besonders in Indien). Die politische Verursachung von Hungersnöten zeigt sich inzwischen insbesondere als ein Problem im Zusammenhang mit dem Ausbruch ethnischer Konflikte (v. a. in Kongo [Kinshasa], Burundi, Ruanda). In den Nachfolgestaaten der UdSSR (GUS) und Jugoslawiens (v. a. in Bosnien und Herzegowina) entstand in den 90er-Jahren erneut die Gefahr von Hungersnöten durch großen Nahrungsmittelmangel; neben Bürgerkriegen wurden sie v. a. vom Zusammenbruch des Wirtschaftslebens als Folge unkontrollierbarer Begleiterscheinungen der politischen Transformationsprozesse verursacht. Die latente Gefährdung großer Bevölkerungsgruppen durch Hungersnot ist angesichts der schwierigen Ernährungssituation insbesondere in Regionen der Dritten Welt trotz weltweit wachsender Produktion und Bereitstellung von Nahrungsmitteln weiterhin hoch. - Hungersnöte und Hungerkrisen haben immer wieder - nach überlieferten Quellen - Kannibalismus ausgelöst.
 
Literatur:
 
W. Abel: Massenarmut u. Hungerkrisen im vorindustriellen Dtl. (31986);
 P. Camporesi: Das Brot der Träume. Hunger u. Halluzination im vorindustriellen Europa (a. d. Ital., 1990);
 G. J. Trittel: Hunger u. Politik. Die Ernährungskrise in der Bizone. 1945-1949 (1990);
 M. Montanari: Der Hunger u. der Überfluß. Kulturgesch. der Ernährung in Europa (a. d. Ital., 21995).

* * *

Hụn|gers|not, die [mhd. hungernōt]: großer, allgemeiner Mangel an den nötigsten Nahrungsmitteln: eine drohende, weltweite H.; Etwa 700 000 Menschen in Somalia sind nach Einschätzung der Vereinten Nationen ... akut von einer H. bedroht (SZ 23. 11. 98, 11).

Universal-Lexikon. 2012.