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Muttergöttin
Muttergöttin,
 
Muttergottheit, die Adressatin religiöser Verehrung der primär weiblich gedachten Fruchtbarkeit der Erde oder einzelner ihrer Aspekte, die seit Entstehung der Hochkulturen auch personale Züge gewinnen konnte. Inwieweit es sich um Muttergöttinnen oder eher Fruchtbarkeitssymbole handelt, ist für das Jungpaläolithikum umstritten. Ikonographisch werden sie meist als schwangere oder gebärende oder als üppige Frauen mit hervorgehobenen Geschlechtsmerkmalen, aber auch ganz abstrakt dargestellt, ferner mit Kind und/oder mit männlichem Pendant sowie verschiedenen Attributen. Die mütterliche Natur wurde als Spenderin von Leben, Wachstum und Nahrung angesehen; sie hatte aber auch die gefährlichen Züge einer chthonischen Gottheit, insofern sie Gefahren und Krankheiten bereithielt und die Toten aufnahm. Jungpaläolithische »Venusstatuetten« waren in West-, Mittel- und Osteuropa verbreitet. Mit Verbreitung des Ackerbaus im Neolithikum traten die Vegetationszyklen noch mehr in den Vordergrund. In Anatolien (Çatal Hüyük, Hacɪlar) trat seit dem 6. Jahrtausend eine Fülle von plastischen weiblichen Idolen auf. Die thronende Göttin von Çatal Hüyük vereint, als Gebärende, den Fuß auf einen menschlichen Schädel gestützt, die Aspekte der Herrin von Leben und Tod und, die Arme auf katzenartige Tiere gestützt, der Herrin der Tiere. Auch Westzypern war (seit dem 4. Jahrtausend) das Verbreitungsgebiet einer Muttergöttin (»kreuzförmige Idole«); drei Statuetten der gebärenden Muttergöttin (um 3000) konnten in Fundzusammenhang mit dem Modell eines (runden) Heiligtums geborgen werden. In den frühen Hochreligionen trat die chthonische Orientierung zugunsten von Himmels- und Lichtgottheiten zurück, männliche Götter wurden dominierend, und die bisher unpersönlichen göttlichen Kräfte gewannen personale Züge. Am Himmel angesiedelte Muttergöttinnen finden sich v. a. in den verschiedenen Varianten der Mondgottheiten.
 
In der griechischen und römischen Religion haben sich die Detailfunktionen personalisiert (griechisch: Demeter, Hera, Artemis, Aphrodite, Kore, römisch: Juno, Venus, Minerva), die keltische Religion kannte ebenfalls Muttergöttinnen, wenn auch in personalisierter Form weniger fassbar. Der Name des (nord-)germanischen Göttergeschlechts der Vanen, das der Erde die Fruchtbarkeit geschenkt hatte, ist etymologisch verwandt mit »Venus«. Stark war der Kult der göttlichen Fruchtbarkeit in der vorarischen Harappakultur, die den späteren Hinduismus beeinflusst hat. Bei den Azteken wird die Erde gelegentlich durch einen männlichen Gott (Tlaltecuhtli) repräsentiert; entsprechend der agrarischen Lebensweise waren jedoch auch weibliche Fruchtbarkeit und entsprechende Muttergöttinnen wichtig.
 
Im Vorderen Orient und in Ägypten, wo Muttergöttinnen sowohl mit Gestirnen als auch mit der Erde assoziiert wurden, lebten noch die chthonischen Vorstellungen mit oberflächlicher Personalisierung fort; aus ihnen heraus sind Kultzyklen entstanden, die den Wechsel von Aussaat und Ernte beziehungsweise den Beginn der - für die Landwirtschaft - fruchtbaren Perioden und der Trockenzeit zum Gegenstand hatten. Im Kult wurde die heilige Hochzeit (Hieros Gamos) von Inanna und Dumuzi wiederholt. Zur Zeit der Ernte stirbt der Geliebte, der erst im kommenden Jahr wieder erweckt wird. Vergleichbare Mysterien kannten die babylonische (Ischtar) und die altägyptische Religion im Isis- und Osiriskult, der später mit ethischen Assoziationen verbunden wurde - Isis als Ideal der treuen Gattin und Mutter, meist dargestellt mit ihrem Kind Horus auf dem Arm - und sich auch im Römischen Reich verbreiten konnte. Der Kult von Muttergöttinnen ist in Kleinasien unter verschiedenen Namen (z. B. »die große Artemis«, vergleiche Apostelgeschichte 19, 24-35) überliefert. Der Mysterienkult der Großen Mutter (lateinisch Magna Mater, Kybele) verbreitete sich im ganzen Römischen Reich; als Auferstehungsfest wurden die Hilarien gefeiert. Als Variante dieses Kults gelten die seit dem 3. Jahrhundert n. Chr. im Weströmischen Reich praktizierten Stieropfer. - Die Verehrung der Muttergöttin hat auch die spätere (christliche) Marienverehrung stark beeinflusst.
 
Literatur:
 
R. Briffault: The mothers. A study of the origins of sentiments and institutions, 3 Bde. (New York 1927, Nachdr. ebd. 1969);
 E. Neumann: Die große Mutter. Der Archetyp der großen Weiblichkeit (Zürich 1956);
 E. O. James: The cult of the mother-goddess (New York 1959);
 M. Hörig: Dea Syria. Studien zur religiösen Tradition der Fruchtbarkeitsgöttin in Vorderasien (1979);
 T. Jenny-Kappers: M. u. Gottesmutter in Ephesos. Von Artemis zu Maria (1986);
 D. Kinsley: Ind. Göttinnen (a. d. Amerikan., 1990).

Universal-Lexikon. 2012.