Literaturnobelpreis 1968: Yasunari Kawabata
Der japanische Literat erhielt den Nobelpreis für »seine Erzählkunst, die das Wesen japanischer Denkweise mit großem Feingefühl zum Ausdruck kommen lässt«.
Yasunari Kawabata, * Osaka (Japan) 14. 6. 1899, ✝ Zushi (Japan) 16. 4. 1972; erste Gedichte ab 1915, 1920-24 Studium der englischen und japanischen Literatur an der kaiserlichen Universität in Tokio; später freier Schriftsteller, 1948-65 Präsident des Pen-Clubs Japan, 1958 Wahl zum Vizepräsidenten des Internationalen Pen-Clubs, 1959 Goethe-Medaille der Stadt Frankfurt, 1969 Vortragsreise nach Hawaii.
Würdigung der preisgekrönten Leistung
Mit Yasunari Kawabata wurde 1968 erstmals ein Japaner mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet. Der damals 69-jährige Schriftsteller galt in seiner Heimat seit langem als einer der bekanntesten Autoren, der mit seinen oft über viele Jahre hinweg entstandenen Romanen große Anerkennung gefunden hatte. Bekannt und geschätzt war er nicht nur für sein Prosawerk, sondern auch als Förderer des literarischen Nachwuchses. Sein Engagement in der literarischen Welt steht allerdings in seltsamem Kontrast zu seinem eher gesellschaftsabgewandten, apolitischen Denken und einem sich in seiner Literatur manifestierenden Lebensgefühl, das oft als nihilistisch bezeichnet wird. Ein stoischer Gleichmut angesichts des Todes und die Empfindung, stets nur Beobachter, doch nie Teilnehmer zu sein, kennzeichnen seine Protagonisten, und viele Interpreten deuten diese Grundstimmung aus der Biografie des Autors, der als Frühwaise von seinem Großvater aufgezogen, seit seiner Kindheit mit Krankheit und Tod so vertraut war, dass er sich selbst einen »Experten in Begräbnisdingen« nannte.
Ersten literarischen Ruhm erlangte Kawabata mit seiner 1926 erschienenen Erzählung »Die Tänzerin von Izu«, die in einige Schulbücher aufgenommen wurde und zu seinen bekanntesten Werken gehört. Obwohl sich die Erzählung eher konventioneller Muster bedient, gehörte Kawabata in den 1920er-Jahren zur jungen Garde japanischer Schriftsteller, die sich offen für die westlichen Strömungen Expressionismus, Dadaismus und die von James Joyce entwickelte Technik des Bewusstseinsstroms zeigte. Kawabata gehörte zu den Gründern der Zeitschrift »Bungei Jidai« (japanisch; Literarisches Zeitalter), die ab 1924 für neue Ausdrucksmittel wie freie Assoziation, Unmittelbarkeit der Darstellung und die Abwendung von jeglicher konventioneller Anordnung von Gedanken und Eindrücken eintrat.
Obwohl Yasunari Kawabata den Nobelpreis ausdrücklich auch für seine Traditionsverbundenheit erhielt — das Nobelpreiskomitee würdigte ihn unter anderem »für seine meisterhaften Erzählungen, die mit großer Feinfühligkeit das Wesen japanischer Denkweise zum Ausdruck kommen lässt« —, war er nicht auf die eigene kulturelle Ästhetik fixiert. Dass er allerdings seit Kriegsende seine Verbundenheit mit dem eigenen kulturellen Erbe zunehmend herausstellte, trug wohl wesentlich zum Bild eines traditionsverwurzelten Autors bei, durch den seine modernistischen Anfänge in den Hintergrund traten.
Typisch für Kawabata ist, dass er praktisch alle seine großen Werke zunächst in einer losen Folge von Zeitungsartikeln veröffentlicht hat. Dies war durch die japanische Eigenart begünstigt, dass eine Fülle von konkurrierenden Periodika bei Literaten kürzere Texte oder auch Fortsetzungsfolgen in Auftrag geben und damit den Autoren ein stetiges Einkommen garantieren. Offenbar kam das freie, assoziative Schreiben aber auch Kawabatas Naturell sehr entgegen, auf das er auch dann nicht verzichtete, als er sich dies in finanzieller Hinsicht längst hätte leisten können. Er verwies stets auf die Verwurzelung dieser Produktionsweise in der literarischen Tradition seines Landes, etwa der Gestaltung von Querbildrollen (bebilderten Buchrollen aus dem Mittelalter).
Der Begriff »Roman« steht bei Kawabata also lediglich für ein Werk größeren Umfangs, das seine Entstehung jedoch nicht einem Gesamtkonzept verdankt, sondern sich vielmehr oft über Jahre hinweg entwickelt, indem der Autor das Thema einer Erzählung oder kürzeren Prosaskizze, die er in einer Zeitschrift bereits veröffentlicht hat, im Rahmen eines neuen Auftrags von einer anderen Zeitschrift weiter bearbeitet. Die so entstandenen Texte sind selbstständige Einheiten, Stimmungsbilder oder psychologische Skizzen, in denen die Handlung nur eine untergeordnete Rolle spielt. Aufgrund thematischer Gemeinsamkeiten und motivischer Verknüpfungen werden diese Texte dann vom Autor gebündelt und leicht überarbeitet in Buchform herausgegeben.
Während des Kriegs ließ sich Kawabata wie die meisten seiner Schriftstellerkollegen vom Miltärregime für Propagandazwecke einspannen, dennoch erscheint sein Werk seltsam unberührt vom Zeitgeschehen. Seine großen Romane »Schneeland« (1948), »Tausend Kraniche« (1952) und »Ein Kirschbaum im Winter« (1954) erschienen alle erst nach dem Krieg. Zu den Hintergründen ihrer Entstehung bemerkte Kawabata einmal: »Ich hatte nicht die Absicht, »Tausend Kraniche« oder auch »Ein Kirschbaum im Winter« so lange fortzusetzen. Sie sollten mit einem Mal als kurze Erzählungen beendet sein. Ich habe nur weiter aus dem geschöpft, was der Nachhall hinterließ. (...) Was nachher folgte, habe ich mir selbst genießerisch vergönnt.«
Mit den Jahren hat Kawabata im Bereich der Erzählprosa auch eine eigene Textform entwickelt, die so genannten Handtellererzählungen, die auf wenigen Seiten das Leben im Wechsel der Jahreszeiten und das fragile Gleichgewicht menschlicher Beziehungen zum Thema haben. Insgesamt verfasste Kawabata weit über 100 solcher Texte, die zum künstlerisch besonders wichtigen Teil seines Schaffens gezählt werden.
Die typische männliche Hauptfigur seiner Werke ist der dem Leben distanziert gegenüberstehende Mann. Eine wohlsituierte Person, die es sich leisten kann, im Müßiggang die eigenen ästhetischen Bedürfnisse in der Beschäftigung mit der Kunst und schönen jungen Frauen zu erfüllen, ohne von den Forderungen des Alltags bedrängt zu werden. Der Held bleibt jedoch merkwürdig kühl und distanziert, unfähig zur echten Hingabe, Zuschauer seines eigenen Lebens, voller Sehnsucht zwar, doch einsam und unerfüllt. Ein Musterbeispiel dafür ist Shingo, die Hauptfigur im 1954 erschienenen Roman »Ein Kirschbaum im Winter«, der vielen Kritikern als ein Höhepunkt von Kawabatas Schaffen gilt. Über etwa 15 Monate hinweg vom Sommer 1947 bis Oktober 1948 verfolgt der Roman das alltägliche Leben in der Großfamilie Shingos, dessen Todesahnungen und geschärfte Wahrnehmungen auch dem banalsten Akt noch tiefere Bedeutung abgewinnen. Die Personen — außer Shingo und seiner neben ihm herlebenden Frau sind dies sein Sohn Shuichi, der fremdgeht und Kikuko, die davon erfährt und deshalb ihr Kind abtreiben lässt, außerdem seine Tochter Fusako mit Mann und Kindern — gewinnen eine für Kawabatas Werke eher ungewöhliche Individualität und Plastizität.
Neben seiner schriftstellerischen Arbeit hat sich Kawabata stets intensiv für die allgemeine Förderung der Literatur der japanischen Gesellschaft eingesetzt, etwa indem er 1945 mit einigen Kollegen in Kamakura eine Leihbibliothek gründete, die nach Kriegsende in einen Verlag umgewandelt wurde. Im Jahr 1948 wurde er Präsident des japanischen Pen-Clubs. Die Verleihung des Nobelpreises, die er als Ehrung für die gesamte japanischsprachige Literatur ansah, krönte seinen internationalen Ruhm. Sein Selbstmord am 16. April 1972 bleibt ein Rätsel: Zwar wusste man von Phasen der Medikamentenabhängigkeit in den 1960er-Jahren, aber ob sein Tod durch Einatmen von Gas in seinem Arbeitszimmer in Zushi ein geplanter Akt war, ist ungewiss. Einen Abschiedsbrief hinterließ er jedenfalls nicht.
M. Geckeler
Universal-Lexikon. 2012.