Akademik

Kunsttheorie der Renaissance
Kunsttheorie der Renaissance
 
In kaum einer anderen kunsthistorischen Epoche begleiteten so viele theoretische Schriften die Entstehung von Werken der bildenden Kunst wie in der Renaissance. Die Traktate des 15. und 16. Jahrhunderts richteten sich dabei weniger an die Künstler selbst als vielmehr an humanistisch gebildete Betrachter, um diesen die Diskussion über Kunst jenseits eines subjektiven Geschmacksurteils zu ermöglichen. So entstand mit der Kunsttheorie der Renaissance zum ersten Mal eine gemeinsame Sprache von Künstlern, Auftraggebern und einer interessierten Öffentlichkeit.
 
Den Beginn dieser Entwicklung bezeichnet Leon Battista Albertis Schrift »Della pittura« (1435). Ursprünglich in Latein verfasst, wurde dieser Traktat später von Alberti ins Italienische übersetzt und dem mit ihm befreundeten Architekten Filippo Brunelleschi zugeeignet. In der Widmung betonte der Sohn einer der vornehmsten Florentiner Kaufmannsfamilien den Neuanfang, den er mit seiner Schrift auf dem Gebiet der Kunsttheorie leisten wolle. Hier formulierte er den Anspruch einer umfassenden Erneuerung der bildenden Kunst, die er durch Künstler wie den Bildhauer Donatello und den Maler Masaccio geleistet sah. Alberti hob dabei hervor, dass er nicht etwa Anekdoten über Maler berichten, sondern ein regelrechtes Lehrbuch der Kunst der Malerei verfassen wolle: So erläutert er im ersten der drei Bücher die mathematischen Grundlagen der Malerei, vor allem die Konstruktion der Perspektive; der zweite Teil behandelt die grundlegenden Elemente der Malerei, etwa die Komposition und Beleuchtung von Körpern, und gibt insbesondere Hinweise zur angemessenen Gestaltung des Historienbildes, der dritte ist dem Maler und seiner Bedeutung für das Gemeinwesen gewidmet. Während das kurz zuvor entstandene »Libro dell'arte« Cennino Cenninis noch mittelalterlichen Vorstellungen folgte und im Wesentlichen handwerklich-technische Hinweise enthielt, suchte Alberti zu beweisen, dass die Malerei zu den freien Künsten gehört und kein bloßes Handwerk ist. Immer wieder griff er deshalb auf literarisch überlieferte Beispiele zurück, die belegen, welch hohen sozialen Rang die Maler in der Antike besessen haben.
 
Alberti lieferte mit seiner Schrift »Della pittura« die erste moderne Theorie der Malerei. Für die kaum zu überschätzende Bedeutung der Malkunst führte er zwei Gründe an: Einerseits stütze sie die christliche Religion, indem sie den Menschen die Heiligen und das Heilsgeschehen selbst vor Augen führe. Andererseits besitze die Malerei die göttliche Kraft, das Abwesende anwesend sein zu lassen; dies gelte insbesondere für die Gattung des Porträts, in dem Verstorbene für die Nachwelt weiterlebten. Die daraus abgeleitete Forderung nach höherem sozialem Status und gesellschaftlichem Ansehen der bildenden Künstler ist der kleinste gemeinsame Nenner der Kunsttheorie der Renaissance. Damit geht allgemein die Stilisierung des Künstlers zu einem »Uomo universale« einher, einem Menschen, der - so die Forderung Albertis - umfassend gebildet sein müsse: Künstler wie Leonardo da Vinci und Albrecht Dürer sollten diesen Anspruch ein halbes Jahrhundert nach Alberti in idealer Weise verkörpern. Die Definition des Künstlers als eines auch mit der Literatur vertrauten, Wissenschaft betreibenden Menschen findet sich in allen Schriften Albertis: 1451 schloss er mit »De re aedificatoria« ein umfangreiches Werk zur Architektur ab, nach 1464 verfasste er mit »De statua« eine der Skulptur gewidmete Schrift.
 
Zwei Problemen, die die Kunsttheorie des 16. Jahrhunderts mitbestimmten, schenkte Alberti noch keine große Aufmerksamkeit: zum einen der Frage nach der Besonderheit der Begabung eines Künstlers, seiner schöpferischen Eigenart, zum anderen der Frage nach dem Wesen sichtbarer Schönheit. Daran anknüpfend, bemühte sich die auf Alberti folgende Kunsttheorie darum, ästhetische Kategorien zu benennen, die ausschließlich visueller Natur sind. Gibt es eine spezifisch sichtbare Schönheit, also eine Schönheit, die ausschließlich dem Bild vorbehalten ist? In Benedetto Varchis, Lodovico Dolces und Paolo Pinos Schriften, die allesamt aus der Mitte des 16. Jahrhunderts stammen, bildete die »Grazie« den zentralen Gegenstand: Grazie, die sich in der Anmut des weiblichen Körpers in ihrer Vollkommenheit ausgeprägt finde, sei eine Form ausschließlich sichtbarer Schönheit, die sich letztlich jeder sprachlich-literarischen Beschreibung entziehe.
 
Favorisierte Alberti noch die Vernunftmäßigkeit und Regelhaftigkeit der bildenden Kunst, so betonte Giorgio Vasari die individuelle schöpferische Gestaltungskraft, die Genialität des Künstlers. Zu Recht bezeichnet man diesen italienischen Maler, Architekt und Kunstschriftsteller als den »Vater der Kunstgeschichte«. Berühmt wurde Vasari mit seinen erstmals 1550 erschienenen »Lebensläufen der berühmtesten Baumeister, Maler und Bildhauer«. Mit diesem Werk legte er die erste umfassende Sammlung von Künstlerbiographien vor, beginnend mit derjenigen des Malers Cimabue im 13. Jahrhundert und - in der zweiten Auflage - endend mit dem eigenen Lebenslauf im Jahr 1567. Vasari fasste die Antike als einen ersten Höhepunkt der Kunst auf, dem mit dem Mittelalter ein Verfall gefolgt sei, der erst durch die Neubelebung der Kunst im 13. Jahrhundert habe überwunden werden können. Eingebettet in diesen Rhythmus von Aufstieg und Verfall, gleiche das Aufeinanderfolgen einzelner Epochen den Abschnitten des menschlichen Lebens. Vasari bediente sich einer von antiken Autoren entlehnten Zyklentheorie, um zu schildern, wie sich die Kunst seit etwa 1250 bis hin zu Leonardo da Vinci, Raffael und vor allem zu Michelangelo in drei Entwicklungsstadien des Entstehens, Wachsens und Blühens vollendet habe: Nach Jahrhunderten des »finsteren Mittelalters« - eine Formel, die Vasari prägte - habe mit Cimabue und seinem Schüler Giotto im 13. Jahrhundert die Wiedergeburt (»rinascità«) der Kunst eingesetzt. Darauf sei mit Brunelleschi, Donatello und Masaccio eine Generation von Künstlern gefolgt, die die Kunst auf eine höhere Stufe gehoben hätten. Ihnen sei eine vervollkommnete Nachahmung der Natur gelungen, die Vasari als die wesentliche Errungenschaft dieses Stadiums künstlerischen Fortschritts erachtete. Mit Michelangelo, dessen Werke über ihren vollendeten Illusionismus hinaus auch den ideellen Gehalt der Dinge widerspiegelten, habe die Entwicklung ihren absoluten Höhepunkt erreicht, dem nur ein Abstieg folgen könne.
 
Neben vielen historisch zutreffenden Angaben enthalten die Lebensläufe, die sich aus unterschiedlichsten Quellen speisen, zahlreiche Anekdoten und ausgeschmückte Legenden. Nicht wenige Vitensammlungen späterer Kunstschriftsteller folgten dem Grundmuster des italienischen Vorbilds, wenngleich Korrekturen im Sinne nationaler Selbstbespiegelung vorgenommen wurden. So bemängelte zum Beispiel Johann Fischart, dass Vasari die wichtigsten Künstler des Nordens nicht angemessen gewürdigt habe: Jan van Eyck etwa sei nicht seiner Bedeutung gemäß eingeschätzt, Künstler wie Lucas Cranach der Ältere und Hans Holbein der Jüngere seien zu Unrecht übergangen worden. Die Nachfolger Vasaris bescherten den europäischen Nationen dann Geschichten ihrer eigenen Künstlerheroen: Carel van Mander schrieb einen »Vasari« für die Niederlande, Joachim von Sandrart für Deutschland, André Félibien für Frankreich und Antonio Palomino de Castro y Velasco für Spanien.
 
Dr. Jürgen Müller/Thomas Hensel
 
Literatur:
 
Blunt, Anthony: Kunsttheorie in Italien 1450—1600. Aus dem Englischen. München 1984.

Universal-Lexikon. 2012.