Literaturnobelpreis 1952: François Mauriac
Der Franzose erhielt den Nobelpreis für die durchdringende Seelenkenntnis und künstlerische Intensität, womit er in der Form des Romans das Drama des menschlichen Lebens deutet.
François Mauriac, * Bordeaux 11. 10. 1885, ✝ Paris 1. 9. 1970; nach seinem Studium in Bordeaux und Paris Begründer der katholischen Literaturzeitschrift »Les Cahiers«, seit 1933 Mitglied der Académie française; er begann als Lyriker, wurde als Romancier berühmt und machte sich in den 1950er- und 1960er-Jahren als politischer Kolumnist einen Namen, er schrieb auch Essays und Theaterstücke.
Würdigung der preisgekrönten Leistung
Der Name François Mauriac war dem Gedächtnis der internationalen Öffentlichkeit bereits entfallen, aber durch die deutsche Wiedervereinigung erlebte eines seiner berühmten Bonmots eine unverhoffte Konjunktur: »Ich liebe Deutschland so sehr, dass ich froh bin, dass es zwei davon gibt.« Sein Talent für bissige Kommentare hatte Mauriac in den 1950er- und 1960er-Jahren als Kolumnist der konservativen Tageszeitung »Le Figaro« unter Beweis stellen können. Und das mit so großer Wirkung, dass Mauriac als »unsterbliches« Mitglied der Académie française und weltbekannter Romancier und Nobelpreisträger darüber beinahe in Vergessenheit geriet.
Glaube und Literatur
Bei der Entscheidung des Nobelpreiskomitees für den katholisch-konservativen Mauriac mag auch die Überlegung eine Rolle gespielt haben, einen Ausgleich für die Vergabe des Preises an den protestantischen Freigeist André Gide fünf Jahre zuvor zu schaffen. Mauriac selbst hat allerdings immer auf die Feststellung Wert gelegt, kein katholischer Romancier zu sein, sondern ein Katholik, der Romane schreibt. Doch hat er mit seiner Vorliebe für öffentliche Stellungnahmen über seine Werke, Interviews und Kommentare selbst nicht wenig dazu beigetragen, dass der literarische Gehalt seines Erzählwerks mit seiner katholischen Moralistik verwechselt wurde. Tatsächlich ist der Gegenstand von Mauriacs Romanen der denkbar universellste: die Zumutungen und Unergründlichkeit des menschlichen Lebens. Mauriac — hierin ein Erbe des russischen Schriftstellers Fjodor Michailowitsch Dostojewski — erzählt von den Leidenschaften, Verstrickungen und Verirrungen der Menschen, dabei mehr vom Unglück als vom Glück, mehr von der Sünde als von der Tugend. Da Mauriacs Romane in einem relativ »klassischen«, gemäßigt modernistischen Stil verfasst sind und durch eine elegante und verständliche Sprache ebenso zu fesseln wissen wie durch ihre zügig vorangetriebene, hochgradig dramatische, auf die Hauptpersonen fokussierte Komposition, ist es kein Wunder, dass er zu einem viel beachteten Autor wurde, dessen Werk in alle wichtigen Literatursprachen übersetzt wurde. Seine Romane spielen beinahe ohne Ausnahme im bürgerlichen Milieu von Bordeaux. Eben dieser Welt entstammte auch Mauriac, der allerdings seit seinem 22. Lebensjahr in Paris lebte. Von dort blickte er mit dem unerbittlich scharfsichtigen Blick des Exilanten auf die Welt seiner Kindheit und Jugend zurück.
Das literarische Leben Mauriacs
1909 trat Mauriac ins literarische Leben Frankreichs ein, als sein erster Gedichtband, »Les mains jointes« (französisch; die gefalteten Hände), den Applaus des angesehenen französischen Kritikers Maurice Barrès erntete. Mit seinen Romanen tat sich Mauriac anfangs schwer, erst 1922 gelang ihm mit »Der Aussätzige und die Heilige« der Durchbruch zu einem breiteren Publikum. Die Hauptfigur des Buchs, Jean Péloueyre, ist ein für Mauriacs Prosa der 1920er-Jahre typischer Charakter: Emotional leidet er unter einer arrangierten Ehe und sein poetisches Talent kommt neben den übermächtigen Ansprüchen der Familie und der Kirche nicht zur Entfaltung. Auch Fernand Cazenave in »Génitrix« (1923), Raymond in »Die Einöde der Liebe« (1925) und Thérèse in »Die Tat der Thérèse Desqueyroux« (1927) scheitern mit ihren individuellen Begabungen und ihrem erotischen Begehren an dem Milieu ihrer Herkunft, der ebenso materialistischen wie konformistischen Welt der Provinzbourgeoisie. Mit ihren erdrückenden Milieustrukturen und mit jener Selbstsicherheit, die allem Beschränkten eigen ist, wehrt diese Klasse alles ab, was ihre Werteordnung erschüttern könnte, leidenschaftliche Liebe ebenso wie Intellekt und Poesie. Mauriac zeigt, welche fein differenzierten Mechanismen wirksam sind, um das kollektive Wertesystem der Bourgeoisie gegen die individuellen Bedürfnisse der Mitglieder durchzusetzen. Gleichwohl geht es Mauriac nicht um Gesellschaftskritik. Vor allem interessiert ihn die poetische und psychologische Qualität des Gegensatzes zwischen erstarrtem äußerem Leben und der aufgewühlten Innenwelt des Einzelnen.
Die Romane seit den 1930er-Jahren wie »Natterngezücht« (1932), »Das Geheimnis der Frontenac« (1933), »Das Ende der Nacht« (1935) oder »Die Pharisäerin« (1941) variieren vor einem autobiografischen Hintergrund (1932 erschienen Mauriacs Kindheitserinnerungen unter dem Titel »Commencements d'une vie«; französisch; Anfänge eines Lebens) das Motiv der Erlösung und dokumentieren eine Hinwendung zu Gott, nachdem Mauriac in den späten 1920er-Jahren eine geistige Krise durchgemacht hatte. Zur gleichen Zeit begann er verstärkt, journalistisch zu arbeiten. Bis zu seinem Lebensende blieb er eine viel beachtete Figur in der publizistischen Arena Frankreichs.
Das politische Leben
Politisch war Mauriac konservativ orientiert, zeitweise stand er der extrem nationalistischen »Action française« des französischen Politikers und Schriftstellers Charles Maurras nahe. Doch wusste er immer seine Unabhängigkeit zu wahren. Er zeigte stets eine Abneigung gegen klerikalen Hochmut und bekannte sich zu einer sozialen Verantwortung im christlichen Sinne. Während des Spanischen Bürgerkriegs verurteilte er mit sicherem Gespür für das unaufrichtige politische Kalkül die Allianz des spanischen Generals Francisco Franco mit der Kirche. Nachdem er zu Beginn des Zweiten Weltkriegs noch die konservative Law-and-order-Politik des Generals Philippe Pétain unterstützt hatte, mochte er dessen Kollaboration mit der Nazibesatzung nicht mitmachen und begann Charles de Gaulle und den französischen Widerstand zu unterstützen, insbesondere mittels des unter einem Pseudonym veröffentlichten »Cahiers Noir« (1943; französisch; das schwarze Heft). Nach dem Krieg äußerte sich Mauriacs Sinn für soziale Gerechtigkeit und politische Moral in seinem Engagement für die Entkolonialisierung. Er unterstützte nach der Rückkehr de Gaulles ins Präsidentenamt im Jahr 1958 dessen Algerienpolitik, die 1962 mit der Unabhängigkeit der ehemaligen französischen Kolonie endete. Mauriac veröffentlichte ein Buch über den General (»De Gaulle«, 1964), den er rückhaltlos bewunderte. Zu dieser Zeit hatten sich Mauriacs moralistische Dramen von Sünde, Selbstüberschätzung, Schuld, Strafe und Erlösung bereits überlebt. Mit de Gaulles Rücktritt 1969 endete auch Mauriacs große Zeit als politischer Publizist, ein Jahr darauf starb er.
J. Zwick
Universal-Lexikon. 2012.