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I sexueller Missbrauch,
Sammelbezeichnung für sexuelle Handlungen, die sich gegen Kinder und Jugendliche (Schutzalter) oder andere Menschen, die rechtlich benachteiligt sind, wenden. Strafrechtlich unterscheidet man zwischen sexuellem Missbrauch von Kindern (§ 176 Strafgesetzbuch, Abkürzung StGB), von Jugendlichen (§ 182 StGB), von Schutzbefohlenen (§ 174 StGB), durch Amtsträger (§ 174 b StGB) und von Gefangenen und Kranken (§ 174 a StGB).
vor allem durch die Öffentlichkeitsarbeit von Selbsthilfegruppen (z. B. Wildwasser, Kobra, Zartbitter) und der Aktion Jugendschutz, aber auch mit bedingt durch die Aufdeckung spektakulärer Fälle, hat sich in den letzten Jahren das allgemeine wie das wissenschaftliche und juristische Interesse verstärkt auf den sexuellen Missbrauch von Kindern (vor allem innerhalb der eigenen Familie) gerichtet. Nach Schätzungen des Bundeskriminalamts sind vor der Strafrechtsreform 1994 in Deutschland jährlich zwischen 250 000 und 300 000 Kinder, vorwiegend Mädchen, sexuell missbraucht worden (der nicht geringe Anteil von missbrauchten Jungen ist noch schwerer abzuschätzen). Zur Anzeige kommen aber nur rund 16 000. In nur etwa 20 % dieser Fälle wird überhaupt Anklage erhoben, dann aber führen circa 80 % zu einer Verurteilung. Die meisten Täter stammen aus der unmittelbaren Umgebung der Opfer: Väter, Stiefväter, Großväter, Onkel, Brüder, Lebensgefährten der Mutter, Mütter, Erzieher, Pfarrer, Lehrer. Ganz fremde Personen machen nur einen geringen Prozentsatz der Täter aus. Der sexuelle Missbrauch durch Personen aus der Familie oder dem näheren Umfeld ist besonders bedrohlich, weil gerade diejenigen Personen, denen ein Kind vertraut und bei denen es Schutz sucht, diese Grundlage zerstören.
Häufig werden die Opfer jahrelang missbraucht, und zwar umso länger, je eher der Missbrauch begann; einer Studie des Beratungszentrums »Wildwasser« zufolge waren 40 % der betreuten Mädchen noch keine sechs Jahre alt, als sie erstmals sexuellen Missbrauch erlebten. Selbst Säuglinge können Opfer von sexuellem Missbrauch sein.
Eine zusätzliche Belastung stellt für die Opfer die Erfahrung dar, dass sich Angehörige, meist Mütter, mit dem Täter verbünden, indem sie wegsehen, die Tat verharmlosen oder dem Opfer die »Schuld« zuweisen. Dies hat zur Folge, dass die betroffenen Kinder und Jugendlichen den Missbrauch weder inner- noch außerhalb der Familie anzusprechen wagen und ihm daher oft jahrelang schutzlos ausgesetzt sind und dass sie fast immer unter Schuldgefühlen (zur Situation beigetragen oder sich nicht genügend gewehrt zu haben) leiden, was das Verschweigen und die Scham, sich jemandem anzuvertrauen, noch verstärkt. Bei missbrauchten Jungen kommt oft noch zusätzlich die Scham dazu, in der »männlichen« Rolle gedemütigt zu sein, und die Angst, für homosexuell gehalten zu werden. Daher offenbaren sich Jungen und Männer noch seltener.
Kinder und Jugendliche, die sexuell missbraucht wurden, leiden (auch als Erwachsene noch) unter körperlichen und seelischen Folgen. Eine Abscheu vor allem Sexuellen, Entfremdung des eigenen Körpers, Essstörungen (Magersucht, Bulimie) u. a. psychosomatische Erkrankungen (z. B. der Unterleibsorgane, der Haut, Kopfschmerzen), Ängste (z. B. die Kontrolle zu verlieren), Schlafstörungen, mangelnde Selbstsicherheit und Misstrauen auch gegenüber allgemeinen sozialen Kontakten, Drogenabhängigkeit und Selbstmord können mit erlittenem sexuellem Missbrauch zusammenhängen.
Jemanden über einen selbst erlittenen oder bei anderen vermuteten sexuellen Missbrauch zu informieren, ist ein schwerer Schritt, weil es oft gleichzeitig bedeutet, die Schuld des Täters offen zu legen. Wenn es ein Verwandter oder Bekannter ist, verändert sich dadurch fast immer die Situation für die ganze Familie oder Lebensgemeinschaft. Oft wird deshalb dem Opfer die »Verantwortung« dafür auferlegt. Das ist falsch. Manchmal dauert es Jahre, bis man dies erkennt und den Mut findet, sich jemandem anzuvertrauen.
An alle oben genannten Organisationen, an Selbsthilfegruppen, Beratungsstellen der Jugendbehörden und an den Deutschen Kinderschutzbund können sich betroffene Mädchen und Jungen vertrauensvoll wenden, wobei sie auf Wunsch anonym bleiben beziehungsweise (zunächst) von ihren Erfahrungen erzählen können, ohne den Täter zu nennen. Solche Beratungseinrichtungen gibt es in jeder größeren Stadt, dort wird den Betroffenen verständnisvoll, schnell und unbürokratisch geholfen. In manchen Städten gibt es sogar Wohnungen (»Mädchenhäuser«), in denen Kinder und Jugendliche beiderlei Geschlechts sofort vorübergehende oder dauerhafte Aufnahme finden und die vor dem Täter und/oder der Familie geheim gehalten werden.
Wenn Erwachsenen, die nicht in dieser Thematik besonders ausgebildet sind, Vertrauen von Missbrauchten entgegengebracht wird oder sie selbst einen Verdacht auf sexuellen Missbrauch schöpfen, sollten sie sich unbedingt (im ersten Fall mit Einverständnis des/der Betroffenen) an eine solche Fachorganisation wenden. Sowohl eine falsche Verdächtigung wie auch ein falsches Vorgehen kann schweren Schaden anrichten und Hilfe blockieren.
Siehe auch: Kindesmisshandlung, Prostitution, Sextourismus, Sexualstraftaten, sexuelle Selbstbestimmung.
II
sexueller Missbrauch,
nach §§ 174 bis 179 StGB mit Freiheitsstrafe bis zu 5 Jahren oder mit Geldstrafe bedrohte Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung, insbesondere die Vornahme oder Veranlassung sexueller Handlungen an Kindern, Schutzbefohlenen unter 18 Jahren, an Inhaftierten, behördlich Verwahrten oder Kranken in Anstalten sowie Widerstandsunfähigen; im engeren Sinne sind auch die in § 180 (Förderung sexueller Handlungen Minderjähriger) und in § 184 (Verbreitung pornographischer Schriften) aufgeführten Straftatbestände zum sexuellen Missbrauch zu rechnen.
In den letzten Jahren hat sich das allgemeine wie das wissenschaftliche und juristische Interesse in verstärktem Maße auf den sexuellen Missbrauch von Kindern in der Familie gerichtet. Nach Schätzungen des Bundeskriminalamtes werden in Deutschland jährlich zwischen 250 000 und 300 000 Kinder sexuell missbraucht, fast ausschließlich Mädchen; angezeigt werden jährlich jedoch nur ungefähr 15 000-16 000 Fälle (1993: 15 430; 1994: 15 096; 1995: 16 013), von denen wiederum nur etwa 10 % vor Gericht kommen; in circa 80 % dieser Fälle wurden die Angeklagten auch verurteilt. Mehr als drei Viertel der Täter sind Familienangehörige (Väter, Stiefväter, Großväter, Onkel, Brüder).
Eine 1992 vom Fachbereich Psychologie der Hamburger Universität an 541 Frauen und 35 Männern durchgeführte Befragung zu traumatischen Kindheitserfahrungen ergab, dass der Täter in 46 % der Fälle der leibliche Vater war; 8 % der Befragten nannten auch Täterinnen, v. a. die Mutter. Das Spektrum des Missbrauchs reichte von irritierenden Bemerkungen bis zum Geschlechtsverkehr, wobei zwei Drittel der Befragten »sehr schwere sexuelle Misshandlungen« angaben, meist in Verbindung mit der Androhung gravierender Sanktionen bis hin zu Morddrohungen bei Bruch des Schweigens.
Häufig werden die Opfer jahrelang missbraucht, wie eine für 1991 erstellte Statistik des Beratungszentrums »Wildwasser« ausweist, und zwar umso länger, je eher der Missbrauch begann; 40 % der von »Wildwasser« betreuten Mädchen waren noch keine sechs Jahre alt, als sie erstmals sexuelle Gewalt erlebten.
Eine zusätzliche Belastung stellt für die Opfer die Erfahrung dar, dass v. a. die Mutter den Missbrauch schweigend duldet, sodass die betroffenen Kinder und Jugendlichen den Missbrauch weder inner- noch außerhalb der Familie anzusprechen wagen und ihm daher oft jahrelang schutzlos ausgesetzt sind.
Nahezu alle Opfer haben neben körperlichen Symptomen (etwa Erkrankungen der Unterleibsorgane, Hauterkrankungen, Essstörungen und Kopfschmerzen) auch die seelischen Folgen zu verkraften; so leiden sie häufig an Ängsten (beispielsweise, die Kontrolle zu verlieren), an Schlafstörungen, mangelnder Selbstsicherheit und Misstrauen gegenüber allgemeinen sozialen, aber auch intimen Kontakten; etwa 40 % der Betroffenen haben im Jugend- oder Erwachsenenalter einen oder mehrere Selbsttötungsversuche unternommen.
Das gewachsene öffentliche Bewusstsein hat, neben einer stärkeren Ausschöpfung des gesetzlichen Strafrahmens, zur Gründung spezieller, vorrangig kommunaler Beratungseinrichtungen (Kobra, Wildwasser, Zartbitter) geführt, in denen auch Psychologen beziehungsweise Psychotherapeuten zur Verfügung stehen; Organisationen wie der Deutsche Kinderschutzbund bemühen sich, flächendeckend konkrete Hilfsangebote zu entwickeln. - Pornographie (Kinderpornographie), Prostitution (Kinderprostitution).
Universal-Lexikon. 2012.