Literaturnobelpreis 1997: Dario Fo
Der italienische Schauspieler und Theaterautor erhielt den Nobelpreis für sein volkstümlich-politisches Agitationstheater.
Dario Fo, * Leggiuno-Sangiano (Provinz Varese), 24. 3. 1926; seit 1951 Schauspieler, Autor und Regisseur, 1954 Hochzeit mit Franca Rame (* 1929), der Mitautorin fast aller Stücke, 1958 Gründung der Compagnia Fo-Rame, 1969 erste feste Spielstätte in einer Fabrikhalle bei Mailand, 1995 Schlaganfall, teilweiser Verlust des Sehvermögens; seine Stücke wurden und werden in fast 60 Ländern auf allen Kontinenten aufgeführt.
Würdigung der preisgekrönten Leistung
Ein Mann erzählt, wie der Herr seine Frau vergewaltigt und die Schergen ihn selbst so zugerichtet haben, dass beide nicht mehr auf dem Feld arbeiten können. Die Kinder verhungerten und die Frau starb vor Schmerz und Scham — jetzt steht er alleine da. Nicht etwa ein brasilianischer Campesino ergreift hier das Wort, sondern ein mittelalterlicher Gaukler, Hauptfigur der fünften Szene von Dario Fos Theaterstück »Mistero Buffo« (1969). »Die Geburt des Spielmanns«, so der deutsche Titel einer Episode des Stücks, geht nicht auf eine bewusste, freie Berufsentscheidung zurück, sie ist von den gesellschaftlich-politischen Verhältnissen erzwungen: Der seines Lands beraubte Kleinbauer zieht nun von Ort zu Ort, erzählt seine Geschichte, setzt sie mit der jeweiligen lokalen Situation in Beziehung, stellt die Mächtigen bloß und macht sie mit seiner Wortkomik und seinem gestischen Spiel lächerlich. Christus selbst ist herabgestiegen und hat ihm mit einem Kuss die Kraft des Wortes verliehen — in der Tat ein Mistero buffo, ein drolliges Wunder!
Kann einer, der solche Stücke schreibt und aufführt, den Literaturnobelpreis erhalten? Die Überraschung war groß und die Reaktionen der Öffentlichkeit bewegten sich — wie stets, wenn es um Fos Theater geht — zwischen jubelnder Zustimmung und wütendem Protest. »Nach so viel Verstand nun ein Hanswurst.« Dieser Kommentar der Vatikanzeitung »L'Osservatore Romano« verdeutlicht, welche Diskussionen die Verleihung des Preises an den italienischen Dramatiker ausgelöst hat. Erstmals wurde nicht ein schriftlich fixiertes, literarisches Werk ausgezeichnet, vielmehr hielt man das unermüdliche Engagement des Schauspielers und Autors, seiner Frau und seiner Truppe für preiswürdig. Die Entscheidung zeigt, wie sich in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts der Literaturbegriff erweitert hat. Sie zeigt außerdem, dass die Schwedische Akademie angesichts dessen das Testament Alfred Nobels neu gedeutet hat: Es spricht den Preis nämlich dem zu, der »der Menschheit den größten Nutzen erwiesen« hat, in der Literatur dem »vorzüglichsten Werk idealistischer Prägung« — und nicht dem schönsten, dem meistverkauften oder dem von Kritikern und Wissenschaftlern am höchsten gelobten.
Gauklerspiel auf der Bühne. ..
Fo ist Idealist, deshalb spielt er Theater. Als Meister der Improvisation geht er jeden Abend auf den Ort des Gastspiels, auf aktuelle Probleme oder Skandale ein, sodass das am nächsten Abend an einem anderen Ort, vor einem anderen Publikum aufgeführte Stück mit dem vom Vortag womöglich nur den Titel und das grobe Handlungsgerüst gemeinsam hat. Theater, insbesondere aber das Lachen auf der Bühne und im Publikum, sind für ihn eine höchst politische Angelegenheit, ein Mittel im Kampf gegen Willkür und Unterdrückung. Dass ausgerechnet der katholische Klerus ihn für einen »Hanswurst« hält, dürfte Dario Fo also eher gefreut haben.
Schon als Kunststudent an der renommierten Mailänder Brera-Akademie hatte der Sohn eines Eisenbahners und einer Bäuerin einen Ulk organisiert, einen fingierten Picasso-Besuch. Bald war er häufiger auf der Bühne als im Hörsaal zu sehen. 1952 gab er das Studium auf und widmete sich dem Revuetheater, produzierte Radiosketche und versuchte sich kurzzeitig auch im Filmgeschäft. Seine Liebe aber gehörte dem Theater und der einer altehrwürdigen Schauspielerdynastie entstammenden Franca Rame. Das Ehepaar ist seit 1954 gemeinsam für Text, Regie, Inszenierung, Produktion und Aufführung von fast 50 Revuen, Farcen, Komödien und Bühnenmonologen verantwortlich. Häufig nehmen sie darin Stellung zu politisch brisanten Themen. Repressionen zum Beispiel in Form eines 15 Jahre währenden Boykotts durch den staatlichen Fernsehsender RAI, Zensurversuche, Behinderung der Tourneearbeit durch Polizei und Behörden oder vereinzelte Sabotageaktionen von Priestern blieben da nicht aus und bewiesen, dass die Compagnia Fo-Rame den Nerv getroffen hatte.
... als politische Aktion
Höhepunkt ihrer Popularität waren die 1960er- und 1970er-Jahre, die Zeit der Generalstreiks, Fabrikbesetzungen und Studentenproteste, in der sich Schauspieler, Bühnentechniker und Ausstatter 1968 als Kollektiv unter dem Namen Nuova Scena organisierten und vor streikenden Arbeitern, in besetzten Häusern, psychiatrischen Kliniken und Gefängnissen auftraten, aber auch bei Straßenfesten und politischen Prozessen für Stimmung sorgten. Um sich der Vereinnahmung durch die Kommunistische Partei zu entziehen verließen Fo-Rame 1970 das Kollektiv und fingen als La Comune in einer leer stehenden Fabrikhalle in einem Mailänder Vorort neu an. Manche Titel aus dieser Zeit sind beinahe sprichwörtlich geworden und verweisen auf die enorme Breitenwirkung, die Fos Stegreiftheater in bester Commedia dell'Arte-Tradition auch außerhalb Italiens erlangt hat: »Zufälliger Tod eines Anarchisten« (1970), »Nur Kinder, Küche, Kirche« (1977) oder »Offene Zweierbeziehung« (1983) sind beinahe jedem geläufig. Zugleich zeigen diese Stücke, dass die Tagesaktualität ihre wesentliche Inspirationsquelle ist: Der Vietnamkrieg, die Spannungen im Nahen Osten, der Bombenanschlag auf der Piazza Fontana in Mailand, der mysteriöse Tod des Verlegers Feltrinelli, der Militärputsch in Chile, das Referendum zur Ehescheidung, der Feminismus oder der Mord an Aldo Moro — kaum ein Ereignis, das die beiden Theaterleute nicht zum Thema machen. Damit wollen sie nicht einfach bloßstellen, unterhalten und moralische Empörung wecken, sie regen vielmehr zu zivilem Ungehorsam an, klagen nicht nur an, sondern zeigen auch Handlungsalternativen auf.
Aufgrund der Freiheit der szenischen Realisierung, die die Texte von Fo und Rame eröffnen, und aufgrund der Themen, die oft auf die Situation in jedem Winkel der Welt übertragbar sind, wurden die bekanntesten Stücke in den 1970er- und 1980er-Jahren auf allen Kontinenten gespielt, mal im Nationaltheater, mal als Schüler- oder Studentenaufführung und häufig eben auch als illegale Kellerinszenierung aufgeführt. Sie sind Teil einer internationalen, volksnahen Widerstandskultur geworden, deren wichtigste Waffe das Lachen über die Reichen und Mächtigen ist. »Diesen Preis«, so Fo, »verstehe ich als Anerkennung der Satire, der Groteske und der Freiheit, über uns selbst und über die Macht zu lachen. Mich haben die Anrufe bewegt, die ich aus der Türkei, aus Algerien, aus Afghanistan bekommen habe, wo die Schauspielgruppen, die unsere Stücke aufführen, eingesperrt und verfolgt werden. Diesen Preis habe ich auch stellvertretend für sie bekommen.«
H. Grote
Universal-Lexikon. 2012.