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Musik des 19. Jahrhunderts
Musik des 19. Jahrhunderts
 
Die Frage, ob das 19. Jahrhundert insgesamt als eine musikalische Epoche gelten kann, ist nicht ganz leicht zu beantworten. Die Fülle der Kompositionen und die Verschiedenartigkeit der nationalen und regionalen Entwicklungen der Musik dieses Zeitraums sprechen eher dagegen. Andererseits gibt es wesentliche Aspekte, die eine solche Epochenzuweisung berechtigt erscheinen lassen. Hierzu gehört eine relativ kontinuierliche Entwicklung des musikalischen Materials, vor allem der Harmonik, ein in den Grundzügen fixiertes Gattungsverständnis und eine trotz vieler Kontroversen auf bestimmten anerkannten Prinzipien beruhende Ästhetik und Rezeption der Musik.
 
Ein wichtiges Argument, das 19. Jahrhundert als musikalische Epoche anzusehen, ergibt sich ferner aus den Anfängen der »Neuen Musik« um 1910, der Entstehungszeit signifikanter Kompositionen von Arnold Schönberg, Igor Strawinsky und Béla Bartók, die einen merklichen Bruch mit der Vergangenheit und damit ein eindeutiges Epochenende signalisieren. Weit weniger präzise dagegen lässt sich der Beginn einer »Musik des 19. Jahrhunderts« bestimmen, wenn man, wie es allgemein üblich ist, die Werke Beethovens als Weiterführung der Impulse Haydns und Mozarts und damit als Abschluss der Wiener Klassik ansieht. Noch zu Beethovens Lebzeiten allerdings gab es kompositorische Neuansätze bei einigen seiner Zeitgenossen, zum Beispiel die genialen Klavierlieder Franz Schuberts oder die frühromantischen Opern von E. T. A. Hoffmann, Louis Spohr und Carl Maria von Weber, die einen Epochenbeginn um 1815 als sinnvollen historischen Ordnungsversuch nahe legen.
 
Der so umgrenzte Zeitraum von etwa 1815 bis etwa 1910 lässt sich durch die Zäsuren um 1830, um 1850 und um 1890 in vier Abschnitte untergliedern, die mit Daten und Entwicklungen der allgemeinen Zeitgeschichte (Wiener Kongress 1814/15, Pariser Julirevolution 1830, das Revolutionsjahr 1848, die Jahrzehnte vor dem ersten Weltkrieg) ungefähr korrelieren.
 
Der erste dieser Abschnitte von 1815 bis 1830 wird geprägt von den Werken der Komponistengeneration um Franz Schubert, Carl Maria von Weber und Gioacchino Rossini sowie von der Spätphase im Schaffen Beethovens. Weber starb im Jahre 1826, Beethoven 1827, Schubert 1828. Rossini schrieb 1829 seine letzte Oper, »Wilhelm Tell«. Unmittelbar danach beginnt das Wirken der zweiten Generation um Robert Schumann, Felix Mendelssohn Bartholdy, Frédéric Chopin und Hector Berlioz, ferner die erste Schaffensperiode von Franz Liszt und Richard Wagner. All diesen Komponisten gemeinsam ist ein romantisch progressiver Enthusiasmus und das Bewusstsein, einer geschichtlich späteren Zeit anzugehören, der Aufbruch zu Neuem und zugleich der Rückblick auf eine vergangene Epoche, die erst jetzt als Wiener Klassik historisch begriffen wurde.
 
Um 1850 endete das Schaffen Schumanns, Mendelssohns und Chopins. In der Folge bis etwa 1890 entstanden die reifen Werke Liszts, Wagners, Verdis, Brahms' und Bruckners. In einer Zeit wachsender Industrialisierung weitete sich das europäische Musikleben immer mehr aus. Länder, die bislang hauptsächlich italienische, französische und deutsche Musik übernahmen, entwickelten eine eigene nationale Musikkultur mit teilweise ganz neuen, spezifischen Klangidiomen.
 
Durchgreifende stilistische Wandlungen zeigen sich dann wieder ab etwa 1890. In der Generation Gustav Mahlers, Richard Strauss', Hans Pfitzners, Hugo Wolfs, Max Regers, Claude Debussys und Aleksandr Skrjabins gelangte die Musik der Epoche ihrem Wesen nach an ihr Ende. Zugleich bereitete sich der entscheidende Umschwung vor, der zur Musik des 20. Jahrhunderts führte. Das kompositorische Schaffen geriet in eine krisenhafte Phase, entdeckte immer entlegenere Klangbereiche und immer komplexere formale Gestaltungen. Eine innerhalb der bisherigen Stilhaltung kaum mehr zu steigernde Ausdrucksintensität und strukturelle Differenzierung lassen diese Periode als eine Kunst der Spätzeit mit der Faszination letzten Aufblühens und teils sich neigender innerer Kraft erscheinen.
 
Eine so lange, so vielfältige musikalische Entwicklung lässt sich nicht unter einem Begriff zusammenfassen. Insofern ist die noch immer verbreitete Epochenbezeichnung »Romantik«, auch wenn man sie durch Zusätze wie »Früh-«, »Hoch-«, »Spät-« und »Nachromantik« zu differenzieren versucht, für die Musik des ganzen Zeitraums nicht tragfähig. Eingegrenzt auf bestimmte Phasen, Länder und musikalische Kriterien behält sie jedoch ihren Sinn. Auffällig ist hierbei die Sonderstellung der Musik unter den übrigen Künsten. Während in der Literatur und Kunst die »Romantik« spätestens nach 1830 von neuen Strömungen abgelöst wurde, bewahrte die Musik in weit stärkerem Maße die ihr eigenen romantischen Elemente. Zeitgenössischen Richtungen wie dem Realismus oder dem Naturalismus lässt sie sich daher kaum oder nur sehr bedingt zuordnen. Im Unterschied vor allem zur gegenwartsorientierten Literatur blieb das sprachlose Medium Musik einem Kunstbegriff verpflichtet, der ihr die universale Symbolik einer »inneren« und »anderen« Welt zuwies und sie von der politischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit weitgehend entfernt hielt.
 
Eine Sonderstellung kommt der Musik des 19. Jahrhunderts auch im Hinblick auf das gegenwärtige Musikleben zu. Nach dem Verständnis vieler Musikhörer ist sie nicht eigentlich »Geschichte« geworden und bedurfte, anders als die Musik des Barock, der Renaissance oder des Mittelalters, keiner Wiederentdeckung und historischen Aufführungspraxis. Werke des 19. Jahrhunderts bestimmen durch das Konzertleben und die Medien nach wie vor unsere Klangerfahrung. Und damit ist auch unsere Hörerwartung geprägt von Vorstellungen, die sich vor etwa 200 Jahren herausgebildet und seitdem eigentümlich wenig verändert haben.
 
Die Ursachen hierfür sind zum Teil in dem tief greifenden Wandel der Kunstmusik des 20. Jahrhunderts begründet. Eine breite Hörerschaft ist nur sehr zögernd bereit, diesem Wandel verständnisvoll zu folgen und sieht daher die Musiksprache der gerade vergangenen Epoche als das scheinbar Normale und zeitlos Gültige an. Zum anderen liegt die Ursache in der außerordentlichen Mannigfaltigkeit dieser Epoche selbst. Viele musikalische Gattungen und Ausdrucksformen erlangten in ihr eine ungewöhnliche Ausstrahlung und Wirksamkeit. Das schließt Verfallserscheinungen und populäre Verflachung nicht aus. Es förderte aber, zumindest in der kulturtragenden Schicht des europäischen Bürgertums, die Überzeugung, dass der Musik eine vorher nie gekannte Geltung und Gipfelstellung unter allen Künsten zukomme. Grundlage dieser Überzeugung waren Gedanken der literarischen Frühromantik um 1800, die der Musik ein eigenes Reich und eine gleichsam metaphysische Sprachfähigkeit zuweisen. Sie blieben, modifiziert und abgeschwächt, durch das ganze 19. Jahrhundert hindurch als eine Art ästhetisches Gemeingut wirksam.
 
Prof. Dr. Peter Schnaus
 
Literatur:
 
Assafjew, Boris V.: Die Musik in Rußland. Von 1800 bis zur Oktoberrevolution 1917. Berlin 1998.
 Dahlhaus, Carl: Klassische und romantische Musikästhetik. Laaber 1988.
 Dahlhaus, Carl: Die Musik des 19. Jahrhunderts. Sonderausgabe Laaber 1996.
 Fink, Monika: Der Ball. Eine Kulturgeschichte des Gesellschaftstanzes im 18. und 19. Jahrhundert. Innsbruck u. a. 1996.
 Geck, Martin: Von Beethoven bis Mahler. Die Musik des deutschen Idealismus. Stuttgart u. a. 1993.
 
Geschichte der Musik, herausgegeben von Michael Raeburn und Alan Kendall. Band 2: Beethoven und das Zeitalter der Romantik. Band 3: Die Hochromantik. München u. a. 1993.
 Rummenhöller, Peter: Romantik in der Musik. Analysen, Portraits, Reflexionen. Kassel u. a. 1995.

Universal-Lexikon. 2012.