islamischer Staat,
ein aus der Anfang des 7. Jahrhunderts von Mohammed geschaffenen Gemeinde der Gläubigen von Medina hervorgegangener Staat, dessen einendes Kriterium die islamische Religion, nicht aber die Nationalität seiner Bewohner ist. Nach der Vorstellung heutiger islamischer Fundamentalisten müssen Verfassung und Gesetze auf den Vorschriften des Korans basieren und sich alle Bereiche des politischen und gesellschaftlichen Lebens (Verwaltung, Rechtsprechung, Sozialwesen, Erziehung und Wirtschaft) am Geist des Islam ausrichten; Mandatsträger haben sich durch Frömmigkeit (im Sinne des Islam) und Sachkunde auszuweisen, so übernehmen z. B. im Rahmen der iranischen Verfassung Theologen und islamische Rechtsgelehrte Kontrollfunktionen.
Grundlage für die islamische Staatstheorie ist die Einheit von Religion und Staat, Politik und Glaubensgemeinschaft, wie sie unter Mohammed und den Kalifen bestanden hat. In der im Mittelalter ausgestalteten Staatstheorie stand zunächst die Frage nach dem legitimen Staats- und Gemeindeoberhaupt (Imam) im Vordergrund, deren Behandlung bei den Sunniten in dem Werk al-Mawardis (✝ 1058) ihre klassische Form fand. Später setzte sich dagegen unter dem Einfluss A. Ibn Taimijas (* 1263, ✝ 1328) die Anschauung durch, entscheidend für die Islamizität des Staates sei die Durchführung des islamischen Rechts (Scharia). Sie wird auch heute von den islamischen Fundamentalisten vertreten, die eine im Zeichen der Verwestlichung eingetretene partielle Säkularisierung von Staat und Recht rückgängig zu machen streben und den »islamischen« Staat fordern oder, im Falle der islamischen Republik in Iran, bereits errichtet zu haben glauben. Soweit islamische Fundamentalisten den islamischen Staat mit den Prinzipien einer Demokratie für vereinbar halten oder zu verbinden suchen, argumentieren sie gewöhnlich, das parlamentarische System der Demokratie entspreche der koranischen Weisung, das Staats- und Gemeindeoberhaupt solle bei anstehenden Entscheidungen die Konsultation (arabisch schura) mit Mitgläubigen pflegen. Nach westlichem Verständnis ist das Konzept der unmittelbaren Geltung der auf Gott als Gesetzgeber zurückgehenden Scharia im Staat mit den Prinzipien der Volkssouveränität und der aus ihr abgeleiteten Gesetzgebungsgewalt des Parlaments jedoch unvereinbar - es sei denn, man beschränkte diese Prinzipien wiederum wesensfremd auf die Regelung jener Fragen, die durch die Scharia nicht geregelt sind. Fundamentalist. Verfechter des islamischen Staats lehnen das Mehrparteiensystem meist als der Einheit der Gläubigen zuwiderlaufend und angesichts des für Politik und Recht eindeutig vorgegebenen Gotteswillens als überflüssig ab. Sie halten nach dem islamischen Recht an der Sonderstellung für Angehörige nichtislamische Schriftreligionen fest, die diesen zwar gegen Zahlung einer Sondersteuer die Beibehaltung ihres Glaubens, aber keine gleichberechtigte Teilhabe am staatlichen Leben gestattet. Insofern bringen Bestrebungen, einen islamischen Staat zu errichten, besonders Angehörige religiöser Minderheiten wie die Juden und die Christen (z. B. die Kopten in Ägypten) in die Gefahr des Verlustes ihrer vollen Bürgerrechte.
T. Nagel: Staat u. Glaubensgemeinschaft im Islam, 2 Bde. (1981);
L'Islam et l'état dans le monde d'aujourd'hui, hg. v. O. Carré (Paris 1982);
H.-G. Ebert: Die Interdependenz von Staat, Verf. u. Islam im Nahen u. Mittleren Osten in der Gegenwart (1991).
Universal-Lexikon. 2012.