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indische Musik
ịndische Musik,
 
auf dem indischen Subkontinent verbreitete Hochkunst, Volks- und Stammesmusik. Bei der Hochkunst - meist als indische Musik im engeren Sinne aufgefasst - unterscheidet man nach Stilkriterien die Hindustanimusik des indoarischen Sprachbereichs in Nordindien, Pakistan und Bangladesh von der karnatischen Musik des Südens mit dravidischen Sprachen. Die beiden Stile stimmen in praktischen und theoretischen Grundlagen überein und entwickelten sich erst seit dem 13. Jahrhundert auseinander. Die Volksmusik (Lokagita, »ortsüblicher Gesang«) zeigt zuweilen Anleihen von der Hochkunst, die auf gleiche Vorbilder oder die Übernahme von Melodien sowie Rhythmen zurückzuführen sind. Dagegen hat jeder Stamm sein eigenes Musikrepertoire, das häufig nur wenige Melodien umfasst, die zahlreichen Texten zu verschiedenen Anlässen angepasst werden können. - Die Hochkunst hat ihre Wurzel im frühen religiösen Gesang; als Ausgangspunkt für die Entwicklung der Kunstmusik gilt der altindische Samaveda. Der Musikpraxis hat eine siebenstufige Tonskala als Richtschnur gedient. Zur Bestimmung der Tondistanzen wurde im Natyashastra (wohl 1. Jahrhundert n. Chr.) ein Maßintervall festgelegt: der Mikroton Shruti als 22. Teil einer Oktave. Vier solcher Shruti ergaben den großen Ganzton (8:9), zwei Shruti den Halbton (15:16). Die Intervalle des Sagrama, der älteren siebenstufigen Grundskala, wurden als Folge von 4-3-2-4-3-4-2 Shruti interpretiert. Dabei galt die obere Shruti eines jeden Intervalls als Standort für den Tonpunkt. Dies ergab die Skala eines d-Modus. Später wies man der jeweils unteren Shruti den Tonpunkt zu. Hieraus resultierte eine unserem C-Dur nahe Skala, auf deren Grundton die modernen Skalensysteme N- und Südindiens basieren. Neben dem Sagrama benutzte das ältere Tonsystem als grundlegende Skala den Magrama, der von der 4. Stufe des Sagrama ausging. An diesen beiden Skalen orientierte sich die Stimmung der Musikinstrumente. Indem man auf jedem ihrer Töne eine siebenstufige Modalleiter errichtete, erhielt man das System der 14 Murcana, aus denen man sieben als Gebrauchsleitern für die Praxis auswählte. Diese sieben Murcana dienten zur Bestimmung der Tonhöhen in den Leitern der 18 als Jati bezeichneten Melodietypen. Die Haupttöne verliehen der Melodie ihre besondere »Stimmung« oder »Färbung« (Raga), und diese entsprach jener Gemütsstimmung (Rasa), die die betreffenden Töne bei der Textrezitation in Bühnenspielen ausdrückten. Die im Laufe der Zeit entstandenen Melodien mit neuen Tonkombinationen und Ornamentfiguren wurden als eigenständige Raga dargestellt. Heute umfasst das Skalensystem Südindiens 72 Grundtonleitern (Melakarta), die einer 12-stufigen chromatischen Skala entwachsen sind. Im Anschluss an das Melakartasystem entwickelten die Nordinder Anfang des 20. Jahrhunderts zur Systematisierung ihrer Raga das Thatsystem mit zehn für die Musikpraxis besonders wichtigen Skalen.
 
Metrum und Rhythmus (Tala, »Klatschen«) der indischen Musik sind möglicherweise aus dem Handklatschen zu Gesang und Tanz hervorgegangen. Eine Liste von 120 Schlagperioden der älteren Zeit verzeichnet das »Samgitaratnakara« des Sharngadeva (1. Hälfte des 13. Jahrhunderts). Heute sind die Talaperioden überwiegend Vorlagen für die Metrisierung von Musikstücken. An ihnen orientiert sich die Länge der Melodieperioden, und aus den Talaschlägen werden die Grundzeitwerte für Melodie und Trommelspiel gewonnen. Die rhythmische Gestaltung der Melodie, d. h. die Gruppierung und Akzentuierung der einzelnen Töne, ist vom Talametrum weitgehend unabhängig und kann von einer Melodieperiode zur anderen wechseln. Noch größere Freiheit in der Rhythmisierung hat der Trommelspieler. Er prägt sich rhythmische Kombinationen durch mnemotechnische Silben (Bols) ein, die den einzelnen Trommelschlägen entsprechen.
 
Den Vortrag von Melodie und Trommelpart zeichnet oft hohe Virtuosität aus. Zudem spielt die Improvisation eine überragende Rolle. Die indische Kunstmusik kennt nur kleine Ensembles mit vorwiegend Solopartien. Den höchsten Rang nehmen Ensembles mit einem Gesangssolisten ein. Seine Melodie wird in der Regel vom Klang der Bordunlaute Tambura gestützt, von einem Streichinstrument (Sarangi in N-, Violine in Südindien) umspielt und von der Trommel (Tabla in Nordindien, Mridanga in Südindien) begleitet. Für die tragende Melodie sind ferner beliebt: gezupfte Lauteninstrumente wie Sitar und Sarod in Nordindien, die Vina in Südindien, die Oboen Shahnai in Nordindien und Nagasvara in Südindien sowie überall Flöten.
 
Wesentliche Unterschiede zwischen der nord- und südindischen Musik liegen auch darin, dass viele metrisierte Stücke der karnatischen Musik textierte, in Melodie und Tala weitgehend festgelegte Schöpfungen bekannter Komponisten sind, besonders des Dichter-Musikers Tyagaraja (* 1767, ✝ 1847). Ihre Texte geben zum größten Teil hinduistisches Gedankengut wieder, und die Musik soll dem Menschen den Weg zur Versenkung und Läuterung weisen. Letzteres trifft auch für einen Teil der Hindustanimusik zu, die jedoch auch Gesangstexte mit weltlichen Themen kennt. Der ausführende Musiker kann die oft nur kurzen Texte nach Belieben wiederholen und die meist nur im Umriss fixierte Melodie frei gestalten.
 
Literatur:
 
P. Sāmba-Mūrti: A dictionary of South Indian music and musicians, 2 Bde. (Madras 1952-59);
 P. Sāmba-Mūrti: History of Indian music (ebd. 21982);
 H. S. Powers: The background of the South Indian raga-system, 2 Bde. (Diss. Princeton, N. J., 1959);
 O. Gosvami: The story of Indian music (Bombay 1961);
 B. Joshi: Understanding Indian music (ebd. 1963, Nachdr. Westport, Conn., 1974);
 A. S. Fox-Strangways: The music of Hindostan (Neuausg. Oxford 1967);
 A. Daniélou: The rāga-s of Northern Indian music (London 1968);
 A. Daniélou: Südasien. Die i. M. u. ihre Traditionen (Leipzig 1978);
 W. Kaufmann: The ragas of North India (Bloomington, Ind., 1968, Nachdr. New York 1984);
 W. Kaufmann: The ragas of South India (Bloomington, Ind., 1976);
 W. Kaufmann: Altindien (Leipzig 1981);
 J. Kuckertz: Form u. Melodiebildung der karnat. Musik Südindiens im Umkreis der vorderoriental. u. der nordind. Kunstmusik, 2 Bde. (1970);
 S. Prajñānananda: The historical development of Indian music (Kalkutta 21973);
 E. te Nijenhuis: Indian music. History and structure (Leiden 1974);
 
Musik in Asien, bearb. v. J. Kuckertz u. a., Bd. 1: Indien u. der vordere Orient, 2 Tle. (1981);
 A. Daniélou: Einf. in die i. M. (a. d. Frz., Neuausg. 31991).

Universal-Lexikon. 2012.