Gemeinschaftsbewegung,
zusammenfassende Bezeichnung für eine in den 80er-Jahren des 19. Jahrhunderts. innerhalb der evangelischen Kirchen Deutschlands entstandene innerkirchliche Erneuerungsbewegung, in die Traditionen des südwestdeutschen und rheinländischen Pietismus und der angelsächsischen »Heiligungsbewegung« eingeflossen sind. Zurückgehend auf den mit der Erweckungsbewegung verbundenen »pietistischen Neuaufbruch« Anfang des 19. Jahrhunderts., wurden die neu belebten pietistischen Erbauungsversammlungen (Konventikel) zu ihrem Ausgangspunkt. Die Gemeinschaftsbewegung wollte v. a. Menschen geistlich ansprechen, die durch die Predigt- und Seelsorgetätigkeit in den Kirchgemeinden nicht (mehr) erreicht wurden. Evangelisation und Laienpredigt wurden in diesem Zusammenhang und unter starkem angelsächsischem Einfluss zu bestimmenden Kennzeichen der Bewegung. Über Evangelisten und Reiseprediger, deren Tätigkeit zur Gründung zahlreicher Gemeinschaftskreise führte, fand die Gemeinschaftsbewegung in ganz Deutschland Verbreitung. Profilierte Vertreter der frühen Gemeinschaftsbewegung waren der Bonner Theologieprofessor Theodor Christlieb (* 1833, ✝ 1889) und der als Evangelist tätige ehemalige Missionar Elias Schrenk (* 1831, ✝ 1913). Ausgangspunkt der organisierten Gemeinschaftsbewegung wurde die vom 22.-24. 5. 1888 in der Herrnhuter Kolonie Gnadau bei Magdeburg von Vertretern der Gemeinschaftsbewegung aus ganz Deutschland durchgeführte erste Gnadauer Pfingstkonferenz, in deren Folge 1897 der »Deutscher Verband für Gemeinschaftspflege und Evangelisation« gegründet wurde, der als gesamtdeutsche Zentralverband der Gemeinschaftsbewegung deren Anliegen innerhalb der evangelischen Landeskirchen fördern wollte. Die Betonung charismatischer Laienarbeit und persönlicher Heilssicherheit begünstigte nach 1907 ekstatische Einflüsse und Einflüsse der Pfingstbewegung (Geisttaufe, Glossolalie), die sich jedoch nicht dauerhaft in der Gemeinschaftsbewegung durchsetzen konnten und auf die Ablehnung der Mehrheit ihrer Mitglieder stießen. Im Zuge der Neukonstituierung der kirchlichen Rechtsverhältnisse nach 1918 entschieden sich die Gemeinschaftsverbände in Auseinandersetzung mit freikirchlich orientierten Strömungen, die eine eigene »Gnadauer Freikirche« anstrebten, für ein Verbleiben in den evangelischen Landeskirchen. Nach 1945 durch Flüchtlinge und Vertriebene aus den stark durch die Gemeinschaftsbewegung geprägten deutschen Ostgebieten v. a. in Mitteldeutschland einen starken Aufschwung erfahrend, bestand die Gemeinschaftsbewegung nach 1949 in der DDR im Rahmen des organisatorisch eigenständigen »Evangelisch-Kirchlichen Gnadauer Gemeinschaftswerkes«. - Heute (2002) hat der Evangelische Gnadauer Gemeinschaftsverband (Sitz: Dillenburg) rd. 300 000 Mitglieder in 38 regionalen Gemeinschaftsverbänden in Deutschland, Österreich und den Niederlanden; ihm gehören 10 theologische Ausbildungsstätten, 7 Missionsgesellschaften, 16 Diakonissen-Mutterhäuser und 10 Werke mit besonderer Aufgabenstellung an. Als Dachverband repräsentiert er die Landeskirchlichen Gemeinschaften, die innerhalb der evangelischen Landeskirchen organisatorisch selbstständige Gemeinschaften (in der Regel in der Rechtsform eingetragener Vereine) mit hauptberuflich angestellten Gemeinschaftspflegern oder Predigern bilden.
W. Michaelis: Erkenntnisse u. Erfahrungen aus fünfzigjährigem Dienst am Evangelium (21949);
J. Drechsel: Das Gemeindeverständnis der Dt. G. (1984);
D. Lange: Eine Bewegung bricht sich Bahn. Die dt. Gemeinschaften im ausgehenden 19. u. beginnenden 20. Jh. u. ihre Stellung zu Kirche, Theologie u. Pfingstbewegung (Neuausg. 31990).
Universal-Lexikon. 2012.