Condorcet
[kɔ̃dɔr'sɛ], Marie Jean Antoine Nicolas Caritat [kari'ta], Marquis de, französischer Mathematiker, Politiker und Philosoph, * Ribemont (bei Saint-Quentin) 17. 9. 1743, ✝ Clamart (bei Mendon) 29. 3. 1794. Condorcet wurde am Jesuitenkolleg in Reims erzogen. Bekannt machten ihn seine Arbeiten zur Analysis und zum Dreikörperproblem (1768) sowie besonders zur Wahrscheinlichkeitsrechnung. Seit 1769 war er Mitglied der Pariser Académie des sciences, seit 1776 ihr ständiger Sekretär. Er gehörte zum Kreis der Enzyklopädisten. Besonders nahe stand er dem physiokratischen Finanzminister A. R. J. Turgot, der ihn 1774 zum Generalinspekteur der Staatsmünze ernannte. 1782 wurde er in die Académie française aufgenommen. 1789 schloss sich Condorcet der Revolution an; der Verfassung von 1791 stand er kritisch gegenüber. 1791 als Abgeordneter von Paris in die Gesetzgebende Nationalversammlung gewählt, wurde er im Februar 1792 deren Präsident.
In ihrem Auftrag verfasste er den Entwurf einer »Nationalerziehung«, in dem er die Beseitigung aller Klassenunterschiede im Bildungswesen sowie dessen Unabhängigkeit von Staat und Kirche und zum ersten Mal auch umfassende Weiterbildung der Erwachsenen forderte. Als Deputierter des Konvents (seit September 1792) unterstützte er lange Zeit die Politik G. J. Dantons, dann stimmte er mit den Girondisten. Als Mitglied des Verfassungsausschusses legte er im Februar 1793 einen Verfassungsentwurf vor, der den Vorstellungen der Girondisten entsprach; deren Sturz (Juni 1793) verhinderte die Annahme. Als Anhänger der Gironde angeklagt, gelang es ihm, sich verborgen zu halten, bis er 1794 verhaftet wurde. Er starb am Tag nach seiner Verhaftung an Erschöpfung oder durch Gift. Nach seiner im Versteck geschriebenen »Esquisse d'un tableau historique des progrès de l'esprit humain« (1794; deutsch »Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes«) ist der Mensch von Natur gut und unendlicher Vervollkommnung seiner intellektuellen und moralischen Anlagen fähig. Condorcet war ein überzeugter Vertreter wissenschaftlich-technischer Entwicklung und des darauf gegründeten sozialen Fortschritts. Insbesondere setzte er sich für die Gleichberechtigung aller Menschen (Emanzipation der Frau, Sklavenbefreiung) sowie aller Nationen ein. Seine demokratisch-egalitäre Staatstheorie lehnte aber im Gegensatz zu Montesquieu die englische Verfassung ab und stellte das noch heute einflussreiche französische Ideal des demokratischen Einheitsstaates auf.
Condorcets technisch-naturwissenschaftliche Betrachtungsweise der Gesellschaft und des historischen Prozesses machte ihn zum Begründer einer »mathématique sociale«, die die Wahrscheinlichkeitsrechnung auf alle Phänomene der kollektiven Willens- und Urteilsbildung anzuwenden suchte (»Essai sur l'application de l'analyse à la probabilité des décisions rendues à la pluralité des voix«, 1785). Unter dem Einfluss der Physiokraten und A. Smiths vertrat er eine liberale Wirtschaftspolitik. - Condorcet war ein Vorläufer des Positivismus, der materialistischen Soziologie und Geschichtsphilosophie; er beeinflusste C. H. de Saint-Simon und A. Comte.
Ausgaben: Œuvres complètes, herausgegeben von D. J. Garat und P. J. G. Cabanis, 21 Bände (1804, ohne die wissenschaftlichen Werke); Œuvres, herausgegeben von A. Condorcet-O'Connor und M. F. Arago, 12 Bände (1847-49, Nachdruck 1968); Correspondance inédite de Condorcet et de Turgot (1770-79), herausgegeben von C. Henry (1883).
J. G. Frazer: C. on the progress of the human mind (Oxford 1933);
J. Bouissounouse: C., le philosophe dans la Révolution (Paris 1962);
Universal-Lexikon. 2012.