Physiokraten
[französisch, zu Physis und griechisch krateĩn »herrschen«], Gruppe französischer Wirtschaftswissenschaftler in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts, die die erste nationalökonomische Schule entwickelten. Als Begründer gilt F. Quesnay, weitere Vertreter waren V. de Riqueti Marquis von Mirabeau und A. R. J. Turgot.
Vom Naturrecht ausgehend, unterschieden die Physiokraten zwischen einer unveränderlichen und vollkommenen (»ordre naturel«) und einer zeitbedingten und vorübergehenden Ordnung (»ordre positif«); Letztere sollte durch Gesetze den Geboten des »ordre naturel« weitestgehend angenähert werden.
Anknüpfend an die Entdeckung des Blutkreislaufes (W. Harvey, 1628) entwickelte Quesnay das Modell eines natürlichen Wirtschaftskreislaufes in einem Staat ohne Außenwirtschaftsbeziehungen (»Tableau économique«, 1758), der sich durch eine endlose Kette von Tauschakten zwischen den sozialen Klassen vollzieht. Dabei wird der Begriff der sozialen Klasse allein vom ökonomischen Standpunkt aus definiert. Als wichtigste Klasse (»classe productive«) galt die landwirtschaftlich tätige Bevölkerung (Bauern, Pächter, aber nicht Landarbeiter). Die Klasse der Grundeigentümer (»classe propriétaire«; Adel, Kirche, König) erwirtschaftet zwar keine Güter, setzt aber die an sie abgeführten Grundrenten in Umlauf und vermehrt so den volkswirtschaftlichen Reinertrag (»produit net«). Kaufleute, Handwerker u. a. bildeten die dritte, unproduktive Klasse (»classe stérile«), die den Gütern im Wirtschaftsprozess nur ihre eigene Arbeit hinzufügen, ohne neue Werte zu schöpfen. Sinn des Kreislaufs war die jährliche Reproduktion des von den einzelnen Klassen in den Wirtschaftsprozess eingebrachten Betriebskapitals. Während die volle Reproduktion nur innerhalb des »ordre naturel« denkbar war, konnte der Kreislauf innerhalb des »ordre positif« sowohl mit einem volkswirtschaftlichen Plus als auch Minus enden.
Den weit gespannten Wirtschafts- und Finanzreformplänen der Physiokraten (Schaffung leistungsfähiger Großbetriebe nach englischem Vorbild, Freigabe der Getreideausfuhr, Erhöhung der Geldeinnahmen der Landwirte) lag die Annahme zugrunde, dass allein die Landwirtschaft wertschöpfend ist. Aus der Grundüberzeugung der Physiokraten, dass Steuern allein aus dem landwirtschaftlichen Reinertrag gezahlt werden können, ist ihre Forderung nach einer Steuer zu erklären, die ausschließlich von den Grundeigentümern getragen werden sollte (Alleinsteuer).
Manche Reformideen der Physiokraten wurden im Zeitalter des aufgeklärten Absolutismus auch außerhalb Frankreichs aufgenommen, z. B. von Markgraf Karl Friedrich von Baden und Kaiser Leopold II. Der Basler Staatsschreiber I. Iselin veranlasste die Errichtung eines Lehrstuhls für Physiokratie, auf den 1776 der bekannteste deutsche Physiokrat, J. A. Schlettwein, berufen wurde.
Der Physiokratismus hat nur eine kurze Blüte erlebt, da er bald durch die von A. Smith begründete klassische Nationalökonomie verdrängt wurde, doch haben verschiedene theoretische Erkenntnisse weitergewirkt. Das Modell eines Wirtschaftskreislaufs hat sich für ein theoretisches Verständnis des Wirtschaftsprozesses als unentbehrlich erwiesen, auch die Lehren von K. Marx von Umschlag und Reproduktion des Kapitals gehen auf physiokratischen Einsichten zurück. Quesnays »Tableau économique« gilt als erstes Beispiel einer volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung.
F. Hensmann: Staat u. Absolutismus im Denken der P. Ein Beitr. der physiokrat. Staatsauffassung von Quesnay bis Turgot (1976);
R. Walter: Wirtschaftsgesch. (1995).
Hier finden Sie in Überblicksartikeln weiterführende Informationen:
Volkswirtschaft: Ökonomische Ideengeschichte von der Antike bis ins 18. Jahrhundert
Universal-Lexikon. 2012.