Wiener Kreis,
Wiener Schule, eine der wichtigsten philosophischen Schulbildungen im 20. Jahrhundert, hervorgegangen aus dem 1. Wiener Kreis (1908-12), einer informellen Diskussionsrunde, in der u. a. die Vereinigung der Wissenschaftsphilosophie E. Machs mit den Ideen der Konventionalisten (P. Duhem und H. Poincaré) im Zentrum stand. Als M. Schlick 1922 auf Machs Lehrstuhl berufen wurde, bildete sich um ihn ein Zirkel von wissenschaftstheoretisch interessierten Philosophen und Wissenschaftlern, allen voran die Mitglieder des 1. Wiener Kreises Philipp Frank (* 1884, ✝ 1966), H. Hahn und O. Neurath, Kollegen wie V. Kraft, K. Menger und von 1926 an R. Carnap sowie als Studierende H. Feigl, F. Waismann, K. Gödel u. a. Ab 1929 trat die Gruppe im neu gegründeten »Verein Ernst Mach« mit einer Schriftenreihe und der Zeitschrift »Erkenntnis«, die gemeinsam mit der Gesellschaft für empirische Philosophie, Berlin, von Carnap und H. Reichenbach herausgegeben wurde, an die Öffentlichkeit. Mit der Publikation des Manifestes »Wissenschaftliche Weltauffassung. Der Wiener Kreis« (1929) wurden die Grundsätze des konsequenten Empirismus verkündet. Gleichzeitig begann eine Reihe von internationalen Kongressen für die Einheit der Wissenschaften.
Der neue radikale Empirismus (Neopositivismus) wurde durch die mathematische Logik von G. Frege und B. Russell geformt und wesentlich durch L. Wittgenstein beeinflusst. Auf der Grundlage des Verifikationsprinzips, dem zufolge der Sinn eines Satzes durch die Methode seiner Verifikation bestimmt ist, werden die Bereiche der sinnvollen Sätze auf tautologische (logisch und analytisch wahre) und empirische Sätze beschränkt und metaphysische Sätze als sinnlose Scheinsätze abgelehnt, ebenso wie die Möglichkeit synthetischer Sätze a priori. Jeder sinnvolle Satz ist demzufolge mathematisch, empirisch oder auf Sätze zurückführbar (reduzierbar), die unmittelbare Erfahrung widerspiegeln. Der neue Empirismus bedient sich der mathematischen Logik als Mittel der Analyse, entwickelt die moderne Wissenschaftstheorie als Theorie der wissenschaftlichen Sprachen, verneint die Trennung in Natur- und Geisteswissenschaften und vertritt das Programm einer Einheitswissenschaft durch Gründung aller Wissenschaften in einer Einheitssprache. Das Konzept einer Einheitswissenschaft wurde besonders durch Neurath propagiert. Während in der Frühphase des Wiener Kreises für die Realisierung dieses Programms eine phänomenalistische, die individuelle Beobachtung beschreibende Sprache (Beobachtungssprache) gewählt wurde, wie in Carnaps »Der logische Aufbau der Welt« (1928), gelangten Neurath, Wittgenstein und Carnap nach 1929 zu der Auffassung, dass nur eine physikalische Sprache (Physikalismus) als Grundsprache der Wissenschaft gerechtfertigt werden könne, weil alle übrigen Sprachen in sie übersetzt werden könnten und sie die einzige intersubjektiv überprüfbare Sprache ist. Empirisch-wissenschaftliche Theoriebildung erfolgt induktiv, durch sukzessive Sammlung ähnlicher Beobachtungen; die Gültigkeit einer Aussage oder Theorie wird durch deren Verifikation bewiesen, Auffassungen, mit denen sich v. a. K. R. Popper kritisch auseinander gesetzt hat. Der Wiener Kreis hat eine Fülle wegweisender Erkenntnisse im Bereich der Logik und Wissenschaftstheorie gewonnen und mit seinem empiristisch-antimetaphysischer Ansatz zahlreicher Denker, u. a. J. Améry, beeinflusst (Wissenschaftstheorie). Die These der Sinnlosigkeit beziehungsweise Unmöglichkeit der Metaphysik ist Gegenstand kontroverser Auseinandersetzungen geworden.
O. Neurath: Le développement du Cercle de Vienne, et l'avenir de l'empirisme logique (Paris 1935);
R. Haller: Neopositivismus (1993);
M. Geier: Der W. K. (21995);
V. Kraft: Der W. K. (Wien 31997);
F. Stadler: Studien zum W. K. (1997).
Hier finden Sie in Überblicksartikeln weiterführende Informationen:
Positivismus und Wiener Kreis: Abkehr von der Metaphysik
Universal-Lexikon. 2012.