Wissens|soziologie,
soziologischer Forschungsansatz, der sich mit der Zuordnung von Sein und Bewusstsein, von gesellschaftlichen Strukturen, materiellen Daseinsbedingungen und soziohistorische Prozessen einerseits und ihrer theoretischen Reflexion, den Vorstellungen über soziale Zusammenhänge, den Denkstrukturen und Bewusstseinslagen andererseits beschäftigt. Wendet sich die Untersuchung dem Wechselbezug von Gesellschafts- und Gruppenstrukturen und den entsprechenden Wissensformen und -inhalten als eigenständigem Thema zu, stellt Wissenssoziologie eine spezielle Soziologie dar; bezieht sich die Fragestellung v. a. auf das grundlegende Verhältnis von Wissen und Gesellschaft und auf die Gesellschaftsbedingtheit jedes möglichen Wissens unter Menschen, gehört sie zu den soziologischen Grundlagen und stellt einen der zentralen Zugänge zur sozialen Wirklichkeit dar; sofern sich Wissenssoziologie auf die Reflexion sozialwissenschaftlichen Wissens bezieht, kann sie als eine soziologische Metatheorie beziehungsweise als »Soziologie der Soziologie« (H.-J Lieber) angesehen werden.
Die Untersuchung des Wechselbezugs von gesellschaftlichem Handeln und den Wissensformen der Menschen lässt sich in der Erkenntnistheorie bis in die antike Philosophie (Platon) zurückverfolgen. In einem stärker gesellschaftsbezogenen Sinn, der bereits die Frage nach der gesellschaftlichen Organisation des Wissens umfasst, werden die Fragen nach der sozialen Geltung von Wissen und Wissenschaft und die Frage nach der richtigen oder (z. B. durch Vorurteile) verzerrten Wahrnehmung der sozialen Realität in der »Idolenlehre« bei F. Bacon behandelt (Idol). Durch die Ansätze besonders der französischen Aufklärung, die die Untersuchung der gesellschaftlichen Bedeutung des Wissens v. a. in Verbindung mit Macht, Interessen, Herrschaftssicherung und Konkurrenzverhalten sahen, ist die Geschichte der Wissenssoziologie eng mit der Geschichte des Ideologieproblems verknüpft. Schließlich gehören auch das Dreistadiengesetz A. Comtes sowie die von É. Durkheim, M. Mauss und L. Lévy-Bruhl vorgenommenen Untersuchungen zu den Wandlungen von Wissensformen und Wissensorganisation zu den Voraussetzungen der in den 1920er-Jahren von M. Scheler und K. Mannheim begründeten Wissenssoziologie. Die von Mannheim vertretene »radikale« Wissenssoziologie, die von der grundsätzlichen »Seinsverbundenheit« jeden Wissens, von der prinzipiellen Standortgebundenheit (»Aspektstruktur«) und damit von der Relativierung jedes möglichen Wahrheitsanspruchs durch seine gesellschaftliche Situierung ausging, führte Ende der 20er-Jahre zum »Streit um die Wissenssoziologie«, in dessen Folge nicht nur die Erforschung der sozialen Bedingtheit und Bedeutung jeweiligen Gruppenwissens in den Vordergrund rückte, sondern auch die Erforschung der sozialen und historischen Produktion von Wissen, z. B. in der in den 30er-Jahren zunächst v. a. in den USA aufkommenden Wissenschaftssoziologie. Als Teil einer »verstehenden« soziologischen Grundorientierung fand Wissenssoziologie Aufnahme in die Zusammenhänge anderer Theorieansätze, z. B. bei der Erforschung des durch Schulen und andere Bildungsinstanzen vermittelten Wissens und dessen integrativer Funktion im Zusammenhang der strukturell-funktionalen Theorie bei T. Parsons, während sie nach dem Zweiten Weltkrieg durch den Vorrang empirisch-positivistischer Ansätze in den Hintergrund gedrängt wurde; von marxistischer Seite war die Wissenssoziologie aufgrund ihrer sozialen Relativierung jeden Wissens, also auch der »wissenschaftlichen Weltanschauung der Arbeiterklasse« und des mit dieser verbundenen gesellschaftspolitischen Wahrheitsanspruchs, zurückgewiesen worden. Seit den 70er-Jahren erfährt die Wissenssoziologie allerdings in der Ethnomethodologie, der Alltagssoziologie, in verschiedenen kultursoziologischen Ansätzen und in Untersuchungen aktueller wissenschaftssoziologischer und gesellschaftstheoretischer Fragestellungen (z. B. der »Wissensproduktion« in der modernen Gesellschaft) wieder stärkere Aufmerksamkeit.
H.-J. Lieber: Wissen u. Gesellschaft (1952);
M. Scheler: Ges. Werke, Bd. 8: Die Wissensformen u. die Gesellschaft (31980);
Der Streit um die W., hg. v. V. Meja u. a., 2 Bde. (1982);
Ideologie. Ideologiekritik u. W., hg. v. K. Lenk (91984);
Knowledge and reflexivity, hg. v. S. Woolgar (Neuausg. London 1991);
N. Luhmann: Gesellschaftsstruktur u. Semantik. Studien zur W. der modernen Gesellschaft, 3 Bde. (Neuausg. 1993);
K. Mannheim: Ideologie u. Utopie (81995);
P. L. Berger u. T. Luckmann: Die gesellschaftl. Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der W. (a. d. Amerikan., Neuausg. 43.-44. Tsd. 1998).
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Wịs|sens|so|zi|o|lo|gie, die: Wissenschaft von den Wechselbeziehungen zwischen gesellschaftlichen Strukturen und Denkstrukturen.
Universal-Lexikon. 2012.