Reuchlin,
2) Johannes, gräzisiert Kạpnion, latinisiert Cạpnio, Humanist, * Pforzheim 22. 2. 1455, ✝ Stuttgart 30. 6. 1522; nach dem Studium in Freiburg im Breisgau, Paris und Basel (1470-77) sowie in Poitiers und Orléans als Jurist in württembergischen Diensten, u. a. als Beisitzer am Hofgericht (ab 1484); 1496-99 lebte er - von Stuttgart aus politischen Gründen geflohen - am Hof Kurfürst Philipps von der Pfalz in Heidelberg.
Seine humanistischen und altsprachlichen Interessen, geweckt durch seine Lehrer Johannes Heynlin (* um 1428/31, ✝ 1496), R. Agricola und W. Gansfort, erhielten auf drei Italienreisen die entscheidenden Impulse. Kontakte zu M. Ficino (1482) und G. Pico della Mirandola (1490) ließen Reuchlin zum Anhänger des Neuplatonismus und der Kabbala werden; seine Hebräischkenntnisse vertiefte er durch Unterricht bei gelehrten Juden. In Heidelberg entstanden zwei Komödien, die politische Satire »Sergius sive Capitis Caput« (1496) und die Bauernkomödie »Scenica progymnasmata« (»Henno« genannt; 1497), die u. a. von H. Sachs 1531 als Fastnachtsspiel bearbeitet wurde.
Durch seine neulateinischen Dichtungen, seine Lehrtätigkeit und die Übersetzung und Herausgabe zahlreicher lateinischer und griechischer Texte auch als Latinist und Gräzist bedeutend, gewann Reuchlin v. a. als Hebraist maßgeblichen Einfluss. Seine »Rudimenta« (»De rudimentis Hebraicis«, 1506) waren das erste christliche Lehrbuch der hebräischen Sprache. Die Philosophie bildete für Reuchlin das notwendige Vorwissen, um über das Studium der griechischen Philosophen, des Alten Testaments, der jüdischen Mystik und Kabbala zur »geheimen Philosophie« (philosophia arcana) zu gelangen. Diese christliche Theosophie entfaltete er in seinen philosophisch-theologischen Hauptwerken »De verbo mirifico« (1494) und »De arte cabalistica« (1517). Jeweils in Form eines Lehrgesprächs zwischen drei Weisen werden platonische Weltsicht, pythagoreische Philosophie, Kabbala und christlicher Glaube verbunden.
Reuchlins öffentliche Stellungnahme für das jüdische Schrifttum in einem gegen J. Pfefferkorns Antrag auf Vernichtung aller jüdischen Schriften gerichteten Gutachten (1510) verwickelte ihn in einen jahrelangen Streit, der sich zur »Reuchlin-Affäre« (»Reuchlin-Händel«, »Reuchlinistenfehde«) mit den Kölner Dominikanern (besonders J. van Hoogstraten) auf der einen Seite und der Parteinahme zahlreicher Humanisten (Epistolae obscurorum virorum) auf der anderen Seite ausweitete und 1520 mit der kirchlichen Verurteilung von Reuchlins Schrift »Augenspiegel« (1511), der Erwiderung auf Pfefferkorns »Handt Spiegel« (1511), endete. Danach wirkte Reuchlin in Ingolstadt (1520) und Tübingen (ab 1521) als Professor für Griechisch und Hebräisch. Mit dem zu dieser Zeit erfolgten Eintritt in den Priesterstand signalisierte er seine Treue zur katholischen Kirche.
Ausgaben: Briefwechsel, herausgegeben von L. Geiger (1875, Nachdruck 1962); Gutachten über das jüdische Schrifttum, herausgegeben von A. Leinz-von Dessauer (1965); Henno, herausgegeben von H. C. Schnur (1970, Nachdruck 1981); Sämtliche Werke, herausgegeben von W.-W. Ehlers u. a., auf zahlreiche Bände berechnet (1996 folgende).
J. Benzing: Bibliogr. der Schr. J. R.s (1955);
S. Raeder in: Gestalten der Kirchengesch., hg. v. M. Greschat, Bd. 5: Die Reformationszeit, Tl. 1 (1981);
R. u. die Juden, hg. v. A. Herzig u. a. (1993).
Universal-Lexikon. 2012.