Gedächtnis.
Unter Gedächtnis wird die Fähigkeit verstanden, Informationen abrufbar zu speichern (Informationsspeicherung). Die Speicherung von Wahrnehmungen, Erfahrungen und Lern- beziehungsweise Wissensinhalten wird als Merkfähigkeit oder Einprägungsvermögen, deren Abrufen als Erinnern bezeichnet. Die Grundlage des Gedächtnisses sind die Nervenzellen im Gehirn.
Nach weit verbreiteter, nicht unumstrittener Auffassung sind beim menschlichen Gedächtnis drei Einheiten zu unterscheiden: das oft auch als Ultrakurzzeitgedächtnis bezeichnete sensorische Register (SR), das Kurzzeitgedächtnis (KZG) und das Langzeitgedächtnis (LZG).
Das SR speichert von außen kommende Informationen nur ganz kurze Zeit; so wurde z. B. für das optische SR eine Halbwertszeit von circa 0,5 Sekunden errechnet.
Weniger eindeutig sind die Forschungen zum KZG, jener Gedächtniskomponente, auf der das unmittelbare Behalten beruht und die, im Unterschied etwa zum SR, nur eine begrenzte Kapazität von ungefähr sieben Einheiten hat. Dies bedeutet, dass bei kurzzeitiger Darbietung vieler verschiedener Informationen nur etwa sieben Einheiten gemerkt werden können, es sei denn, die dargebotenen beziehungsweise erhaltenen Informationen (z. B. Zahlen, Gebrauchsgegenstände) können zu Klassen oder Gestalten zusammengefasst werden (Chunking). Die Inhalte des KZG gehen sehr schnell nach etwa 20 Sekunden verloren, wenn sie nicht ständig wiederholt und so im Bewusstsein gehalten werden.
Das LZG, die zentrale und zugleich umfangreichste Gedächtniskomponente, ist die Gesamtmenge der überdauernden, aber nicht unbedingt abrufbaren Informationen. Die Inhalte des LZG bilden jedoch keine bloße Anhäufung von Informationen, vielmehr muss man sich das LZG als ein Netzwerk denken, in dem die Inhalte nach bestimmten Regeln miteinander verknüpft sind (Assoziationsgedächtnis).
Während noch bis in die 1970er-Jahre die Annahme vertreten wurde, das Gedächtnis stelle eine Ganzheit dar und lasse sich einer einzelnen Struktur oder einem einzelnen Ort im Gehirn zuordnen, gehen heute v. a. Neurobiologen zunehmend davon aus, dass das Gedächtnis aus zahlreichen Teilkomponenten besteht, die sich um ein komplexes Nervennetz herum aufbauen. So wird u. a. das LZG als Assoziationsgedächtnis begriffen, das Fakten und Vorstellungen aufnimmt und in einem Langzeitspeicher festhält. Ein weiterer, von Neurobiologen wie P. S. Goldman-Rakic postulierter und an Menschenaffen experimentell untersuchter Teil des Gedächtnisses ist das Arbeitsgedächtnis, das - dem Assoziationsgedächtnis wie dem Gehirn zuarbeitend - symbolische Inhalte rasch speichern oder bereitstellen soll (Beispiel: Kopfrechnen mit kurzzeitigem Behalten von Zwischensummen während der Bildung neuer Zwischensummen). Die Aktivitäten des Arbeitsgedächtnisses sind, u. a. aufgrund der Auswirkungen, die Verletzungen und Erkrankungen in diesem Gewebe bei Patienten auf die Bewältigung alltäglicher Situationen haben, in dem vorderen Stirnlappen der Großhirnrinde lokalisierbar.
Des Weiteren untersuchen heute Neurowissenschaftler und Biochemiker, wie chemische Signalsysteme, insbesondere spezielle Botenstoffe (Neurotransmitter), nicht nur Gedächtnis-, sondern auch bestimmte andere Hirnprozesse steuern. Nach ersten Ergebnissen könnten Störungen des Arbeitsgedächtnisses, eventuell im Verbund mit Beeinträchtigungen des Neurotransmitters Dopamin, bei der Entstehung der Schizophrenie beteiligt sein.
Ohne Gedächtnis ist Lernen nicht möglich. Besonders bekannt geworden ist in diesem Zusammenhang die von H. Ebbinghaus ermittelte Vergessenskurve. - Vergessen.
Nach gegenwärtigem Kenntnisstand beeinflussen folgende Faktoren das Behalten: Jeder gelernte Inhalt benötigt eine Konsolidierungsphase von ungefähr 10 bis 30 Minuten, um im LZG inventarisiert zu werden. Weiter gilt, dass ein Lerngegenstand umso besser behalten wird, je öfter er während des Lernens wiederholt wird. Verteiltes Lernen, also die Wiederholung des Lernprozesses nach eingeschobenen Abschnitten mit anderen Aktivitäten, ist effektiver als massiertes Lernen. Die Art der zwischenzeitlich ausgeübten Aktivitäten kann allerdings das Ausmaß des Behaltens stark beeinflussen.
Ferner spielen für das Behalten emotionale Faktoren eine außerordentlich wichtige Rolle: Emotional positive Inhalte werden meist länger behalten als emotional negative, die wiederum länger behalten werden als emotional neutrale (Peters-Prinzip). Außerdem bleiben unerledigte Aufgaben oft wesentlich länger im Gedächtnis als erledigte (Zeigarnik-Effekt).
Universal-Lexikon. 2012.