Chicago-Stil,
1934 von dem französischen Jazzforscher Hugues Panassié eingeführte Bezeichnung für die im Chicago der Zwanzigerjahre entstandene und durchweg von weißen Musikern getragene Jazzspielweise (etwa H. Panassié, Le jazz hot, Paris 1934, 92). Sie repräsentiert den ersten Versuch weißer Musiker, eigenständige Ausdrucksformen innerhalb des Jazzidioms zu entwickeln, und unterscheidet sich darin von dem ebenfalls weißen Dixieland-Jazz (Dixieland) des vorangegangenen Jahrzehnts, der von einem lediglich parodistischen Verhältnis zu dieser afroamerikanischen Musikpraxis geprägt war. Eine große Rolle im Prozess der Herausbildung dieser Spielweise spielte die 1922 an der Chicagoer Austin High School als Schüler-Band gegründete Austin High School Gang. Zu ihren Gründungsmitgliedern gehörten der Kornettist und Trompeter Jimmy McPartland (1907-1991), dessen Bruder Dick McPartland (1905-1957) als Gitarrist, Jim Lanigan (1902-1965) am Klavier, der Klarinettist Frank Teschemacher (1906-1932) und der Tenorsaxophonist Bud Freeman (1906-1991). In den folgenden Jahren kamen noch Benny Goodman (1909-1986), der Posaunist Floyd O'Brien (1904-1968), der Gitarrist Eddie Condon (1905-1973) und der Schlagzeuger Dave Tough (1908-1948) dazu. Sie alle stehen nicht nur für den Chicago-Stil der Zwanzigerjahre, sondern gehörten später dann in den unterschiedlichsten stilistischen Zusammenhängen jeweils zu den bedeutendsten Vertretern ihres Instruments im Jazz. In Chicago begannen sie sowohl unter dem Einfluss schwarzer New-Orleans-Bands (New-Orleans-Jazz) und deren möglichst stilgetreuer Kopie als auch inspiriert durch den weißen Dixieland, nach und nach ihre eigenen Ausdrucksformen im Jazz zu suchen. Was so als Imitation des afroamerikanischen New-Orleans-Jazz begann, entwickelte sich schließlich zu einer eigenständigen Spielweise, die ein wichtiges Bindeglied zum Swing darstellt.
Kennzeichnend für den Chicago-Stil war zunächst die Einführung der Solofolge, solistischer Passagen in freier Stimmerfindung, die lediglich von der Rhythmusgruppe begleitet wurden. Damit trat das Miteinander im Kollektivspiel zugunsten des Nacheinander individueller Soli immer mehr in den Hintergrund. Die frei angelegten Solopassagen ließen an die Stelle des respondierenden Variationsverfahrens aus dem New-Orleans-Jazz die melodische Improvisation auf der Basis der Harmoniefolge des Themas treten. Die Soloreihung brachte die Notwendigkeit der vorherigen Vereinbarung des Grobablaufs mit sich, die Herausbildung des Head-Arrangements. Die Melodiestimmen verloren ihre lineare Eigenständigkeit und wurden in Terz- und Sextparallelen geführt, was den homophonen Satzaufbau des späteren Swing vorbereitete. Die häufig hier als Improvisationsgrundlage verwendeten Tin Pan Alley-Songs (Song, Tin Pan Alley) brachten eine komplexere Harmonik in den Jazz ein. Um dem pulsierenden Rhythmusempfinden der schwarzen Bands möglichst nahe zu kommen, wurde hauptsächlich onbeat (offbeat/onbeat) gespielt. Die vier Grundschläge im Takt erhielten also ein gleiches Gewicht (Fourbeat) — gegenüber dem New-Orleans-Jazz ein wesentlicher Schritt weiter in Richtung auf das gleichmäßig durchgehende, gedachte oder markierte Kontinuum metrisch-rhythmischer Grundeinheiten (Beat) der spezifischen Jazzrhythmik.
Mit all dem vollzog sich langsam auch eine Umwertung des Jazzmusizierens. Die Individualisierung des Musizierens im Solo, die dabei zunehmende spieltechnische Virtuosität und das darin liegende Moment der musikalischen Selbstdarstellung des Solisten lösten den Jazz allmählich aus der festen funktionalen Bindung als Tanzmusik. Er wurde nun auch um seiner selbst willen gespielt und so vom Publikum akzeptiert. Das sich damit herausbildende künstlerische Selbstbewusstsein der Jazzmusiker war dann vor allem mit dem Namen des Kornettisten Bix Beiderbecke (1903-1933) verbunden, der zu den ersten großen Solisten des Jazz gehört. Seine 1923 gegründeten Wolverines spielten mit dem »Riverboat Shuffle« (1924) auch die erste Schallplattenaufnahme im Chicago-Stil ein. In der zweiten Hälfte der Zwanzigerjahre verlagerte sich dann der Schwerpunkt der Entwicklung dieses Stils durch die Übersiedlung der Musiker nach New York. Unter den Folgen der Weltwirtschaftskrise 1929 bis 1932, die den Jazzmusikern durch massenhafte Schließung von Lokalen ihre Existenzgrundlagen entzog, fand er sein vorläufiges Ende. Er wurde später zwar wieder aufgegriffen — unter der Bezeichnung Greenwich-Village-Style, da in diesem New Yorker Stadtteil jene Lokale lagen, die diesen Stil bis in die Sechzigerjahre hinein förderten. Hier wurde er sogar mit Bezug auf die jeweils aktuelle Jazzentwicklung musikalisch weitergeführt, ohne jedoch im Jazzgeschehen noch einmal eine nennenswerte Rolle zu spielen.
Siehe auch: Jazz.
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Chi|ca|go-Stil, der (Musik): von Chicago ausgehende Stilform des Jazz in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg.
Universal-Lexikon. 2012.